© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/00 29. September 2000

 
Weckruf der Geschichte
Zehn Jahre deutsche Einheit: Normalisierung ist noch nicht erreicht
Michael Wiesberg

Jetzt bricht wieder die Zeit der Sonntagsreden an, in denen die "politische Klasse" in Berlin über den "Glücksfall" der Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten in Großwestdeutschland vor zehn Jahren räsoniert. Ein "Glücksfall" war die Wiedervereinigung in der Tat. Sie hätte Anlaß zu einem nationalen Aufbruch werden können. Die Betonung liegt auf "können". Bonn hat es verstanden, die aufkeimende nationale Begeisterung schnell in das Prokrustesbett der bundesrepublikanischen Wirklichkeit zu überführen. Es degradierte den "Glücksfall" zu einem bürokratischen Akt. Die DDR wurde "abgewickelt". Die Begeisterung vieler Deutscher wich deshalb sehr schnell einer Ernüchterung, die heute in Lethargie gemündet ist. Auf der Habenseite kann immerhin verbucht werden, daß zumindest die "Ängste des Auslands" vor neuer deutscher Großmannssucht besänftigt werden konnten. Von deutschem Boden, so unisono die Botschaft der Regierung Kohl und auch Schröder, wird politisch kein Eigenwille mehr ausgehen. Statt dessen gilt die Parole: Nichts ohne meine "westliche Wertegemeinschaft".

Daß sich jetzt auch Politiker zu Wort melden, die wie der derzeitige Außenminister Joseph Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) noch 1989 gefordert hatten, das Wiedervereinigungsgebot aus dem Grundgesetz zu streichen, sei an dieser Stelle nur am Rande vermerkt. Fischer ist beileibe nicht der einzige Politiker aus der derzeitigen Regierungsmannschaft, der aus seiner Abneigung gegen die Wiedervereinigung keinen Hehl gemacht hat.

Und schon gar nicht wurde die Wiedervereinigung von unseren Nachbarn und angeblichen "Freunden" begrüßt, die durch eine Reihe von weitreichenden "Zugeständnissen" positiv gestimmt werden mußten. Das neue, wiedervereinigte Deutschland wurde – trotz gegenteiliger Beteuerungen – keineswegs in die "Normalität" entlassen. Das zeigt der bis heute fehlende Friedensvertrag, das zeigt die nach wie vor in Kraft befindliche "Feindstaatenklausel", das zeigen die nicht enden wollenden Entschädigungsforderungen an die deutsche Adresse. Die Wiedervereinigung der Deutschen hatte einen festen Preis, der "Einbindung" oder besser: "Europäisierung" der deutschen Frage, lautete. So konnte das nicht aufkommen, was für die "innere Einheit" Restdeutschlands, deren Vollendung in den angesprochenen Sonntagsreden immer wieder beschworen wird und wurde, unabdingbar ist: eine nationale Identität. Diese ist nun einmal die Voraussetzung für die "Vollendung der inneren Einheit Deutschlands". Da aber der Begriff "Nation" inzwischen zum Indiz für rechtsextremistisches Denken herabgewürdigt worden ist, ist die Beschwörung der inneren Einheit Deutschlands nichts anderes als eine bloße retorische Leerformel. Wie bereitwillig die politische Klasse in Berlin bzw. Bonn zum Beispiel bereit war, eines der wenigen nationalen Symbole zu opfern, die den Deutschen noch verblieben sind, die Deutsche Mark nämlich, machte der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker deutlich. Dieser gab der Wochenzeitung Die Woche gegenüber zu Protokoll, daß "wir" dem Wunsch der Franzosen, "in Zukunft nicht mehr von der Deutschen Bundesbank mit ihrer noch dominierenden Mark abhängig sein zu wollen", "vollkommen zu Recht" (!) entsprochen hätten. Der Euro, so Weizsäcker, sei der Preis der Wiedervereinigung gewesen. Was hier "vollkommen zu Recht" geopfert wurde, davon hatte wenigstens noch der bayerische Ministerpräsident Stoiber eine Ahnung, der gegenüber Financial Times erklärte: "Die D-Mark steht für den Wiederaufstieg des Landes als funktionierende Demokratie, als Wohlfahrtsstaat und als wirtschaftlich bedeutende, mittelgroße Macht. Zum kollektiven Bewußtsein der Deutschen gehören auch zwei Hyperinflationen, die die Lebensleistung vieler Millionen Menschen über Nacht ausgelöscht haben." Nichtsdestoweniger wurde die Mark geopfert.

An die Stelle einer positiv besetzten nationalen Identität ist zehn Jahre nach der Wiedervereinigung eine Schuld- und Zerknirschungsrhetorik getreten bzw., um es mit dem Schriftsteller Martin Walser zu sagen, die "Dauerpräsentation unserer Schande", die sich wie lähmender Mehltau über das Land gelegt hat. Wenn man so will, ist "Auschwitz" zur "negativen" Staatsraison Deutschlands geworden. Dieser Zustand mentaler Dauerzerknirschung, der jeden Tag aufs neue mit bewältigungshistorisch vorgeglühten Folterzangen erzwungen wird, bedroht inzwischen die Fortexistenz der Deutschen.

Wie wenig die Deutschen noch an die Zukunft dieses Landes glauben, zeigt die ständig zunehmende Überalterung der deutschen Bevölkerung. Wir sind im Begriff, so der Politologe Arnulf Baring, zu einem Altersheim zu werden. Ein Altersheim, das ein "Hochtechnologiestandort" sein will, dem aber die besten Kräfte mehr und mehr verlorengehen. Um nochmals Arnulf Baring zu zitieren: "Als ich 1992/93 nach Princeton ging", schreibt Baring, "bekam ich kurz vorher zufällig ein taschenbuchdickes, aktuelles Verzeichnis der ’Studienstiftung des deutschen Volkes‘ in die Hand, das die Berufe und Anschriften der permanent in den USA lebenden ehemaligen Stipendiaten dieser renommiertesten deutschen Studienstiftungs-Institution enthielt ... Nur eine einzige Stiftung füllte, nur für die USA, mit den Adressen ihrer Absolventen ein ganzes Taschenbuch!" Die Antwort der Bundesregierung auf diesen gewaltigen "brain drain" in die USA lautet bekanntlich "Green Card". Der Exodus gutausgebildeter Deutscher wird weiter mit einem Achselzucken hingenommen, obwohl dieser eigentlich zutiefst beunruhigen müßte.

Statt dessen wird auf Zuwanderung aus aller Welt gesetzt, womit eine weitere Schicksalsfrage angeschnitten ist, die zehn Jahre nach der Wiedervereinigung zutiefst beunruhigen müßte. Statt offensiver Auseinandersetzung mit diesen die Zukunft Deutschlands verdüsternden Fragen droht im Zuge der großen Hatz gegen "Rechts" auch dieses Thema endgültig in die Tabuzone abzugleiten. So geht eine Entwicklung weiter, die der Verleger Wolf Jobst Siedler so beschrieben hat: "... woraus speisen sich die Wanderungswellen, die gegen Europas und Deutschlands Grenzen branden ...? Die Statistik der Einwanderungsbehörden der westdeutschen Länder gibt darüber unmißverständlich Auskunft. Der Prozentsatz der Analphabeten ist größer als in ihren Heimatländern; es kommt fast ausschließlich, wer das Heer der ungelernten Gelegenheitsarbeiter vermehrt. Sie tragen nichts zur Bereicherung der europäischen Bevölkerungsstruktur bei ..."

Die Bilanz, die nach zehn Jahre deutscher Einheit aufgemacht werden muß, fällt zwiespältig aus. Was bleibt, ist die Freude über das Ende des SED-Unrechtsstaates und das Ende der von den Siegermächten erzwungenen Spaltung Europas und der Separierung der Deutschen in zwei Staaten. Es bleibt die Freude über die beeindruckenden Wiederaufbauleistungen in Mitteldeutschland. Die Chancen und Möglichkeiten, die der 9. November 1989 eröffnete, sind hingegen weitgehend verspielt worden.


 
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