© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/00 29. September 2000

 
Wolfgang Thierse
Der BRD- Konvertit
von Janina Ahlers

Unvergessen das Bild, das Bundestagpräsident Wolf-gang Thierse und Bundespräsident Johannes Rau am Rande jenes Areals zeigt, auf dem bald das Holocaust-Denkmal entsteht. Die höchsten Repräsentanten des Staates, mit großen Taschentüchern, haltlos heulend. Der 1943 in Breslau geborene Katholik Wolfgang Thierse, ein Mann mit DDR-Biographie, neben dem Protestanten Rau, dem Wuppertaler Exponenten der alten BRD. Beide vereint, während des Hochamtes der bundesdeutschen Zivilreligion. Thierse scheint im Westen angekommen. Und damit in der jetzt gesamtdeutschen Kultur falscher Gefühle einer politischen Klasse, die in ihrer Abgehobenheit der 1990 abgewickelten DDR-Nomenklatur in den letzten zehn Jahren immer ähnlicher geworden ist.

Bei öffentlichen Interventionen Thierses meint man darum immer häufiger, die Stimme seiner Amtsvorgängerin Rita Süssmuth zu vernehmen. Auch in deren Politikverständnis kam der lästige Souverän, das Volk, primär als Objekt der Belehrung vor. Anfang 1996, im Kontext der Euroeinführung nach der heute wieder thematisierten Volksabstimmung befragt, diktierte Frau Süssmuth: "Wir können nicht sagen, in dieser wichtigen Frage lassen wir das Volk entscheiden."

Solch staatsbürgerliche Lektionen einer Pädagogikprofessorin hat der Germanist Thierse so verinnerlicht, daß er inzwischen als deren alter ego auftritt. Zwar wohnt er noch "bevölkerungs"-nah im "Kiez" Prenzlauer Berg, aber das sind nur folkloristische Reminiszenzen ans Nischen-Dasein vor dem Mauerfall. Heute predigt Thierse, der zwischen 1977 und 1990 eine nicht eben widerständige Existenz im Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften fristete, "Zivilcourage" gegen Rechts und preist den verstockten "Ossis" die Vorzüge multikultureller Weltoffenheit. Um ja keinen der "Gäste" zu verlieren, griff er – falsch informiert – jüngst in absolutistischer Manier in die Kompetenzen von Brandenburgs Innenminister Schönbohm ein, der Thierses Parteinahme zugunsten eines algerischen Abschiebekandidaten zu Recht als "absurd und unhaltbar" zurückwies.

Ähnlich potentatenhaft gerierte Thierse sich als Vorsitzender des Kuratoriums der Mahnmal-Stiftung, die über die Finanzierung des Berliner "Denkmals für die ermordeten Juden Europas" entscheidet. Als kämen die Millionen aus seiner Privatschatulle, habe er, nach Angaben des Kuratorium-Mitglieds Günter Nooke, dem Architekten Peter Eisenman signalisiert, Geld spiele keine Rolle. Die von Thierse geduldete schleichende Kostenexplosion nannte selbst Reinhard Rürup, die SPD-nahe "graue Eminenz der Berliner Gedenkstättenplanung" (FAZ) "mäßig seriös". Mit der Gereiztheit des Konvertierten, der nicht versteht, warum man sich den neuen zivilreligiösen Gewißheiten verschließt, forderte Thierse den CDU-Mann Nooke auf, aus dem Kuratorium auszuscheiden. Der autoritäre Charakter, der sich da offenbart, ist der eigentlich das Erbe Bonner oder Pankower Volksverachtung?


 
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