© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/00 29. September 2000


Der Mauerfall und Elizabeth II.
Deutschland: Gedanken eines Wiener Europaspezialisten über zehn Jahre deutsche Einheit
Andreas Razumovsky

Ich habe nie in Berlin gelebt, bin aber oft zu Besuch gewesen; auch um im Ostsektor ins Theater zu gehen – Schiffbauerdamm, Felsensteins Operninszenierungen. Als "Ausländer" habe ich den "Checkpoint Charlie" überqueren müssen – und bis heute assoziiert mir diese Kreuzung die Angst vor stets den gleichen brutalen Uniformtypen, ob unter den Nazis oder den Kommunisten.

Ich kann nicht anders als subjektiv autobiographisch zurückzutauchen in die "Tiefe der Jahre": beide "Empires of Evil" habe ich schon als Kind miterlebt und überlebt. Im November 1956 habe ich den Beginn meiner Anstellung bei der FAZ um zwei Wochen eigenmächtig hinausgeschoben, weil ich verheddert war in die Katastrophe des Sowjeteinmarsches in Ungarn: nur eine knappe Stunde vor dem Eintreffen der Panzer an dessen äußerster Westgrenze, in Ödenburg/Sopron, habe ich mir von dortigen Studenten das eilig verlassene Hauptquartier der dortigen Gestapo (AVNO) zeigen lassen, mitsamt den Folterkammern im Keller. Einige Jahrzehnte plus Jahre plus Monate später habe ich an der gleichen Stelle erlebt, wie zwei Minister, der ungarische Kommunist Horn gemeinsam mit dem Österreicher Mock, mit langstieligen Drahtzangen den "Eisernen Vorhang" durchknipsten, als erste Lücke für Hunderte, bald Tausende Flüchtlinge aus der DDR. Damals hatte ich schon, lange zurückliegend, die zweite osteuropäische Katastrophe innerhalb der sich zersetzenden Pax Sovietica miterlebt, wohl intensiver als irgendein anderer deutschsprachiger Journalist. Noch zehn Jahre später hat mich der in Preßburg immer noch auf freiem Fuße lebende Politbüroideologe und Hochverräter Vasil Bílak in der Moskauer "Novaja Vremja" als den im Auftrag der CIA die Prager Konterrevolution nach eigenem Ermessen ausgelöst habende Agent bezeichnet; die "Welt" hat mich damals, amüsiert, mit den Worten zitiert, wenn das stimmte, dann wäre ich ja erfolgreicher gewesen als weiland Che Guevara.

Worauf ich hinauswill: den "Fall der Mauer" mit der "Wiedervereinigung" habe ich in Berlin erlebt, eher zufällig, nämlich anläßlich der Urauführung von Thomas Bernhards "Elizabeth II". Natürlich hat mich dieser weitere Akt der ja schon zwanzig und mehr Jahre zuvor voraussehbaren Tragödie des Sowjetimperiums bestätigt und erfreut: niemand hat in all den Jahrzehnten die evidente Realität wahrnehmen wollen, daß dieses Imperium, da durchaus morsch, vor der jederzeit, wohl schon demnächst fälligen Implosion stand. Über dieses Thema hatte ich z.B. im jetzt wieder in Berlin verlegten "Merkur", mit teils bloß enthusiastisch vernagelten, teils, wie Herbert Wehner, schlicht verlogenen "Linken" über viele Hefte ausgedehnte Fehden zu führen. Auch heute bin ich der unmaßgeblichen Ansicht, daß die "Neue Ostpolitik" unseres seligen Willy jenen Zusamenbruch lediglich um Jahrzehnte verzögert hat. Die DDR blieb mir, da es an der FAZ jede Menge des Deutschen hinlänglich mächtiger Kollegen gab und mein Interesse sich auf die slawischen Länder konzentrierte, zumeist im toten Augenwinkel stecken. Dort wurde durch all die Jahre strikt das Gebot befolgt, die "DDR" nur unter Anführungszeichen zu nennen. Als eines Tages, nicht lange vor dem Mauerfall, Jürgen Tern in der kleinen politischen Konferenz die neueste Parole ausgab, ab sofort die Anführungszeichen wegzulassen, habe ich mir zwar einiges Gelächter, aber auch einen grimmigen Verweis des strengen Herausgebers eingeholt, als ich vorschlug, ab sofort und eventuell als Übergang für stutzige Leser nur das zweite "D" in Anführung zu setzen.

In Frankfurt haften bleibt mein Blick hinunter in den Brunnen der Zeit. Dort habe ich eines gelernt, nämlich die fürchterliche Inkompetenz all dieser der freien Gestaltung ihrer Visionen lebenden Künstler, Literaten, Philosophen, Professoren, Journalisten in politischen Belangen. Das habe ich in Berlin erlebt, wo man frei universitär im Angesicht der Mauer für Marcuse ("ubi Lenin, ibi patria") schäumte – darüber müßte ich mich bis heute in Wien herumärgern, aber Frankfurt "1968" geriet mir zur bleibenden Lehre. Als ich die Wut von den akademischen Wiseguys wie von Friedeburg und Fetscher mit ja sachlich argumentierten Prognosen über Breschnjews Pläne für die CSSR auf mich zog; als die vom Fortschritt beseelten Studenten tagelang Redaktion und Druckerei der FAZ belagerten, um die (dort z.T. gedruckte) "faschistische" Bild des "Oberfaschisten" Springer an der Auslieferung zu hindern. Und nicht zuletzt an die Wortspenden der gerade mal zu den trivialen politischen Niederungen herunterschauenden kreativen Großen, wie zum Beispiel der damals gerade frisch in Buchform gedruckte Briefwechsel zwischen Günter Grass und dem kleinen tschechischen Opportunisten Kohout, über die wahreren, zukunftsweisenderen Segnungen des Sozialismus, da beim Willy, dort beim Dubcek. Und bis heute ärgert mich richtig der evidente Schwachsinn jenes Briefs vom 4. November 1968 – an eben den Dichter der "Blechtrommel" meines jahrelangen und bis heute unvergeßlich verehrten Freundes Theodor Adorno, der es nach all den Diskussionen nicht zuletzt auch in Prag wirklich hätte besser wissen müssen, in dem er seinen "Argwohn" äußert, man habe in Washington den Sowjets "grünes Licht" gegeben für die Sowjetpanzer in Prag: "Denn der Gedanke eines freiheitlichen Sozialismus, diese ein-zige Hoffnung, wie sie in der Tschechei sich regte, wäre nicht nur den Russen, sondern ihrer Attraktivität für den Westen wegen auch ebendort unerträglich gewesen. Ich fürchte, die Interessen Moskaus und Washingtons stimmen überein und ich fürchte weiter, daß sich das in einer Aufteilung der Interessensphären, will sagen der Weltherrschaft, weiterhin aufs furchtbarste bewähren wird ..."


 
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