© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/00 29. September 2000

 
BLICK NACH OSTEN
Osmanische Demokraten
Carl Gustaf Ströhm

Während einer Fernsehdiskussionen im ORF kam das Thema Milosevic zur Sprache. Eine Diskutantin sagte selbstbewußt, jetzt gehöre ja alles da unten auf dem Balkan zum "Westen": Bosnien und Montenegro sei Westen, Kroatien schon sowieso – und demnächst werde auch Serbien zum Westen gehören, wenn erst Milosevic, dieser Unhold, gestürzt sei.

Bleiben wir beim Fall Montenegro – dem Land der schwarzen Berge. Als vor Jahren ein westlicher Reporter einen einheimischen Kollegen in Podgorica (Ex-Titograd) fragte, ob denn die damaligen Wahlen in Montenegro frei und fair sein würden, reagierte der Sohn des Landes mit breitem Grinsen. Montenegro, so sagte er, habe im Lauf seiner oft blutigen Geschichte vielerlei erlebt – aber noch niemals eine wirklich freie Wahl. Das gilt natürlich auch für Serbien. Über Milosevic und seine nationalistisch-kommunistische Partei SPS braucht man kein Wort zu verlieren. Aber ist die serbische Opposition wirklich so lupenrein demokratisch, wie sich der Westen das vorgaukelt? Da "unten" handelt es sich um Länder und Völker, welche die Geschichte und Entwicklung des "Westens" nicht mitmachen konnten, weil sie jahrhundertelang unter osmanischer Herrschaft lebten. Insofern sind Serbien und Montenegro heute genauso "westlich" wie Anatolien.

Anders gesagt: eine vor allem großstädtische Schicht in Belgrad ist bereit und begierig, westliche Formen unreflektiert zu übernehmen – von Coca Cola und Fast Food bis zur Gründung US-inspirierter "NGOs" (Nicht-Regierungsorganisationen) zur Förderung der Demokratie. Doch in den Köpfen der smarten serbischen Jugend stecken unbewußt noch immer die alten Mythen – wonach es den Serben gebühre, die führende Rolle in diesem Raum zu spielen, während die anderen Völker bestenfalls "Separatisten" seien.

Selbst den blauäugigen Repräsentanten des "Westens" schwant natürlich, daß im tiefsten Innern dieser Menschen ganz andere Erfahrungen schlummern. So kommt es zu einer bemerkenswerten Verschiebung der "Werte". Schamhaft bezeichnen westliche Medien den serbischen Präsidentschaftskandidaten und Milosevic-Gegenspieler als "gemäßigten Nationalisten". Während in den Augen des fortschrittlichen Europas "Nationalismus", vor allem auf dem Balkan, als Todsünde gilt (der Hauptvorwurf gegen den verstorbenen kroatischen Präsidenten Tudjman lautete, er sei Nationalist), ist man im Falle Serbien bereit, selbst einen Nationalisten zu akzeptieren – wenn er nur nicht ganz so schlimm ist wie dieser Milosevic.

Für den Fall eines "demokratischen" Wahlsieges ist man sogar bereit, für Serbien einige Milliarden Dollar und Euro springen zu lassen; ein Betrag, von dem andere Staaten und Völker der Region nur träumen können. Das heißt aber: der Westen ist bereit, in Serbien mit einer demokratisch bemalten Fiktion vorliebzunehmen, nur um endlich einen "Erfolg" zu erleben. Eine serbische Quasi- oder Pseudodemokratie ist besser als gar nichts. Schon schwant den Slowenen und Kroaten, daß Serbien und Belgrad unverdient in den Genuß westlicher Privilegien kommen werden, weil es dem Westen im Grunde weniger um Demokratie als um strategische Positionen geht.

Einstweilen bietet sich dem Betrachter ein seltsames Schauspiel: beide Kandidaten – Milosevic und Kostunica – behaupten, gewonnen zu haben. Aber ist der Unterschied zwischen beiden wirklich so groß? Der eine wie der andere ist für Groß-Serbien. Die westliche Vorstellung, der serbische Knoten sei durch Wahlen zu lösen, ist ebenso naiv wie illusorisch.


 
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