© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/00 29. September 2000

 
Pankraz,
J. Schumpeter und die Anarcho-Kapitalisten

Sturm im Wasserglas der Vierteljahresschriften. Die sogenannten (sich selbst so nennenden) "Anarcho-Kapitalisten" haben die einst von Caspar von Schrenck-Notzing gegründete konservative Zeitschrift Criticón übernommen und zu ihrem deutschen Zentralorgan umgestaltet. Dem Nachrichtenmagazin Focus war die Affäre immerhin einen Artikel wert. Jetzt sei bei Criticón Schluß mit korporatistischen, etatistischen und nationalen Phrasen, hieß es. Ab sofort werde nur noch Reklame gemacht für einen extrem entfesselten, eben "anarchischen", Turbokapitalismus.

Die neuen Criticón-Herren knüpfen ausdrücklich an die US-amerikanische Libertarianer-Bewegung an, eine kuriose Mischung aus industrieller Ge-winn-Maximierungs-Ideologie und wildwestlicher Trapperromantik. Man fordert u.a. unbeschränkte Drogenfreigabe, Legalisierung des Waffenhandels auf allen sozialen Ebenen, Freigabe von Gewaltpornographie, Abschaffung aller staatlichen Zuwanderungs-Begrenzungen, Abschaffung jeder staatlichen Sozialversicherung. Als Vor- und Leitbilder werden der Filmschauspieler Clint Eastwood und die Chicagoer Friedman-Family (Vater Milton und Sohn David) empfohlen. Statt der Nationalhymne solle bei gegebenem Anlaß künftig ein Song der Gruppe "Grateful Dead" gespielt werden.

Äußerlich ist von dem feinen, grazilen Stil Schrenck-Notzings nichts übriggeblieben. Das Layout ist zauselig und aufdringlich, der Verlautbarungston grell und absichtlich verletzend. Alle Nicht-Anarcho-Kapitalisten werden als vergreiste Trottel, provinzielle "Kohlianer" oder "austauschbare Angestellte" hingestellt. Man tut, als beginne mit der Ankunft der Anarcho-Kapitalisten am deutschen Zeitschriftenkiosk ein völlig neues Zeitalter.

Zitat der Chefredaktion: "Schmeißen wir alles über Bord … Es wächst eine neue Bewegung. Konservative Bohemiens, Dandys, Internetfreaks, TV-Anarchisten und rebellierende Dadaisten … Besuchen wir literarische Cafés, überlegen wir uns Strategien zur Aushöhlung des Sozialversicherungsschwindels, verteidigen wir den marktwirtschaftlichen Wettbewerb …"

Pankraz fragt sich erstaunt, woher die Anarcho-Kapitalisten den Mut nehmen, sich als "neu", "nonkonformistisch" und "originell" zu empfinden. Ihre Manifeste könnten doch den Ka-talog jeder beliebigen Ausstellung von Regional-Künstlern zwischen Villingen-Schwenningen und Annaberg-Buchholz schmücken. Viele ihrer Sätze würden nahtlos in die berühmten Hauruck-Reden des verflossenen Bundespräsidenen und heutigen Talkmasters Roman Herzog hineinpassen. Die Anarcho-Kapitalisten liegen voll im Trend. Sie verkörpern gewissermaßen den Einzug der Financial Times ins literarische Café. Dieser Prozeß ist ohnehin längst im Gange, wird sogar mit diversen Konzern- und Staatsgeldern gefördert.

Eine halbwegs interessante Frage bleibt: Gehören Anarchismus und Kapitalismus wirklich so eng zusammen, wie die Anarcho-Kapitalisten behaupten? Die Väter des alten geistig-politischen Anarchismus, Bakunin und Proudhon, Kropotkin und Erich Mühsam, würden sich wohl im Grab umdrehen, müßten sie so etwas vernehmen. Für sie bedeutete materielles Eigentum, speziell Geld- und Kapitalbesitz und marktwirtschaftlicher Wettbewerb, absolute Freiheitsferne, ein Verstrickt-sein in quasi höllische Zusammenhänge, denen es mit buchstäblich allen Mitteln zu entkommen galt.

Wenn sie zur "Zerstörung" aufriefen, meinten sie in erster Linie die Zerstörung der traditionellen Eigentumsverhältnisse. Der Staat wurde bekämpft, weil er angeblich eine Agentur des Kapitals war, nicht weil er Gemeinschaft, Korporation stiftete. Für Korporation waren die alten Anarchisten durchaus. Sie nannten sie "Syndikat" und glorifizierten darin, daß die Teilnehmer am Syndikat faktisch jeden Tag gehalten waren, es per Willensakt neu zu begründen und gegen alle von oben aufgestülpten Organisationsstrukturen zu verteidigen.

Die berühmte "schöpferische Zerstörung" hingegen, die (laut Schumpeter) dem Kapitalismus innewohnt, richtet sich keineswegs gegen Organisation und auch nicht gegen den Staat, der ja zumindest als Nachtwächter gebraucht wird. Sie richtet sich vielmehr genau gegen das, was den Anarchisten teuer war, gegen das Syndikat, gegen die "Gemeinschaft von unten", wo jeder Quatschkopf letztlich macht, was er will. Wenn Kapitalismus überhaupt etwas ist, dann Gegen-Anarchie, Auflösung von Korporation zugunsten von Organisation.

Die libertäre Idiosynkrasie vor dem Staat in den USA war geschichtsbedingt, ergab sich aus den besonderen, lange Zeit gleichsam vorpolitischen Zuständen an der "neuen Grenze" des zu erschließenden Kontinents. Sie war nichts weiter als ein Antireflex von Trappern, Squattern und allen möglichen Abenteurern und Goldsuchern gegen die nachrückende Verwaltung ("administration"), die natürlich notwendig und unabweisbar war und gegen die man im Grunde auch nichts hatte, die man nur nicht ausufern lassen wollte.

Nach Entwicklung der bürgerlichen Verhältnisse legte sich diese Idiosynkrasie, und diejenigen, die die "Libertät" jetzt noch zu ihrer Weltanschauung machten (Ayn Rand, Murray Rothbard) degenerierten zu lupenreinen Hofnarren der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, zu ihrer gern akzeptierten, weil völlig harmlosen Caféhaus-Besatzung.

Die heutigen Anarcho-Kapitalisten in Deutschland müssen gar nicht erst degenerieren, sie sind von vornherein als Hofnarren angetreten, sie sorgen für "political correctness" im Café-haus, und ihre breitmäuligen Attacken gegen alles Vaterländische kommen sogar den Regierenden in Berlin gelegen. Schade, daß ausgerechnet der konservative Gentleman Baron von Schrenck-Notzing diesen angepaßten Narren ein so hübsches Häuschen baute.


 
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