© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/00 29. September 2000

 
Thukydides
Von der Aktualität eines antiken Klassikers
Ellen Conradt

Von nichts Vergangenem redet, wer heute an Platon erinnert." Das ist mit Sicherheit einer jener "ersten Sätze", die, wie es in Wolf Jobst Siedlers soeben erschienenen Erinnerungen heißt, ihre "Magie" haben. Dieser erste Satz eröffnet 1914 eine Platon-Monographie Max Wundts, und man muß in der Geschichte der deutschen Platon-Rezeption während des Weltbürgerkriegs zwischen 1917 und 1945 nicht allzu bewandert sein, um sich eine Vorstellung von dem aktualisierbaren Potential des griechischen Denkers machen zu können. Das ist nicht nur an den vielen "Platon der Führer"-Buchtiteln ablesbar. Die ideologische Be- und Vernutzung lasse sich, nach Ansicht nicht weniger Wissenschaftshistoriker, noch in den subtilsten Exegesen platonischer Dialoge nachweisen, mit denen etwa der junge Hans-Georg Gadamer sich seinen akademischen Weg bahnte.

Die Antike ist also nicht tot, und wer hat das besser gewußt als das Foreign Office, das ein Studium der Klassischen Philologie für das beste Rüstzeug zukünftiger Diplomaten erachtete. Dabei kam neben Platon vor allem Thukydides (um 460 – um 400 v. Chr.), dem Vater europäischer Geschichtsschreibung, kanonischer Rang zu. Seiner "Geschichte des (zwischen Athen und Sparta ausgefochtenen) Peloponnesischen Krieges" konnte man in London die zeitlose Lehre entnehmen, daß Politik sich am "Interesse der Polis (des Staates) zu orientieren habe, nicht an denen eines einzelnen oder einer Schicht" (Leppin).

Der Althistoriker Hartmut Leppin systematisiert das politische Denken des Historikers Thukydides mittels zweier "Angelpunkte": die Qualität der Gemeinschaftsordnung bemesse sich allein daran, a) wie ihr die Befriedung nach innen sowie die Selbstbehauptung nach außen gelinge, und b) wie sie sich so organisiere, daß die von Eigensucht und Irrationalität geprägte menschliche Natur gebändigt und in den Dienst der Gemeinschaft gestellt werden könne. Von nichts Vergangenem redet, wer heute an Thukydides erinnert.

Hartmut Leppin: Thukydides und die Verfassung der Polis. Ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte des 5. Jahrhunderts v. Chr. Akademie Verlag, Berlin 2000, 253 Seiten, 112 Mark


 
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