© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/00 06. Oktober 2000

 
Kolumne
Wahrheit
von Klaus Motschmann

Die alte Pilatusfrage: "Was ist Wahrheit?" wird bekanntlich sehr unterschiedlich beantwortet und gestattet demzufolge einen sehr unterschiedlichen Umgang mit der Wahrheit. Doch abgesehen davon: auch bewußte Halbwahrheiten und einseitige ideologische Urteile, Vorurteile und Legenden, bloße Mutmaßungen und massive Lügen spielen eine entscheidende Rolle. Die politische und intellektuelle Linke hat sich ganz offen zur "Parteilichkeit" ihrer wissenschaftlichen und publizistisch-journalistischen Arbeit bekannt und den "Objektivismus" als ein methodisches Prinzip der Verleumdung des Sozialismus verurteilt.

Immerhin sind von den Meinungsmachern, auch wenn sie bewußt "parteilich" waren, einige Mindeststandards der Argumentation eingehalten worden. Allzu offene und direkt Lügen sind im Interesse der Glaubwürdigkeit zumindest in einen größeren dialektischen Zusammenhang gestellt worden, um sie dem Volke irgendwie zu erklären. Das ist in der Regel nicht gelungen, ließ aber doch die Anmutung eines letzten Restes von Respekt vor der Urteilsfähigkeit mündiger Bürger erkennen. Man vermittelte die (trügerische) Hoffnung, daß alle nicht verstandenen oder abgelehnten Aussagen im Ergebnis eines längeren Lernprozesses doch als "wahr" anerkannt werden.

Der Prozeß der Zersetzung unseres Werte- und Normengefüges hat jedoch auch in dieser Hinsicht verhängnisvolle Wirkungen hinterlassen. Die Anzeichen mehren sich, daß in weiten Teilen unserer veröffentlichten Meinung derartige (formale) Rücksichten nicht mehr genommen werden. Es bestätigt sich das, was der spanische Philosoph Ortega y Gasset für Europa befürchtete: daß ein Menschentypus entsteht, "der darauf verzichtet, Gründe anzugeben und recht zu haben, der sich schlechtweg entschlossen zeigt, seine Meinung durchzusetzen. (…) Das Neueste in Europa ist es daher, mit den Diskussionen Schluß zu machen; man verabscheut jede Form geistigen Verkehrs, die, vom Gespräch über das Parlament bis zur Wissenschaft, ihrem Wesen nach Ehrfurcht vor objektiven Normen voraussetzt. Das heißt, man verzichtet auf ein kultiviertes Zusammenleben, das ein Zusammenleben unter Normen ist, und fällt in eine barbarische Gemeinschaft zurück." (Der Aufstand der Massen, 1930).

Der Rückfall in die Barbarei kann sich also auf sehr verschiedenen Wegen vollziehen. Es ist deshalb ein grober Verstoß gegen elementare Grundregeln einer um Wahrhaftigkeit bemühten Auseinandersetzung, wenn man bewußt weite Bereiche der Wirklichkeit ausblendet und das jeweilige Thema nur unter einem Aspekt behandelt.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen