© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/00 06. Oktober 2000

 
Eine Bimbes-Affäre auf französisch
Frankreich: In den Pariser Spendenskandal sind Gaullisten und Sozialisten gleichermaßen verwickelt
Charles Brant

In Frankreich hat jede Jahreszeit ihren Skandal: Der allerneueste passierte im Vorfeld des Volksentscheids über die Verkürzung der Amtsperiode des Präsidenten (die JF berichtete). Er betrifft Jacques Chirac selbst und bringt Licht in die merkwürdigen Umtriebe des früheren sozialistischen Ministers Dominique Strauss-Kahn.

Die Affäre, die dem Volksentscheid um den "Quinquennat" unmittelbar vorausging, liest sich wie das Drehbuch zu einem Hollywood-Streifen der übelsten Machart. Sie begann mit der Veröffentlichung des auf Video aufgezeichneten posthumen Geständnisses eines gewissen Jean-Claude Méry auf der Titelseite von Le Monde am 22. und 23. September. Dieser Text enthält schwere Anschuldigungen gegen Jacques Chirac in seinen Zeiten als Bürgermeister von Paris sowie als Premier und trat damit eine alte Polemik über die Undurchsichtigkeit der Verwaltung staatlicher Gelder und deren Mißbrauch durch das "System RPR" wieder los.

Das Gezeter ging sofort los, denn Méry ist kein Unbekannter. Der im Frühjahr 1999 an Krebs gestorbene Immobilienmakler, der aus Nordafrika stammte, war eine Zeitlang Mitglied des ZK des gaullistischen RPR. Im Zuge einer Untersuchung der Pariser Sozialwohnungsbaugesellschaft HLM landete er für mehrere Monate hinter Gittern. Méry hatte immer bestritten, irgend etwas mit Schmiergeldern zu tun gehabt zu haben, die er angeblich für den RPR beschaffte.

In seinem Geständnis, das er aufzeichnete, um sich vor einem Anschlag auf seine Person zu schützen, gibt Méry diesen Tatbestand nicht nur zu, sondern erläutert auch sehr detailliert, wie er Jahr für Jahr zwischen 35 und 40 Millionen Francs verfügbar machte, damit bei der öffentlichen Jahresabrechnung die Kassen stimmten. Er deckt ein regelrechtes Netz auf, in das verschiedene Gesellschaften, vor allem Wasserbetriebe, ebenso verstrickt sind wie Einzelpersonen,
nicht zuletzt Michel Roussin, der Chiracs Kabinettschef und danach Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit war. Er berichtet weiterhin, wie er seine Gewinne mit dem politischen Gegner "teilte" und nennt dabei Gérard Monate, einen Ex- Gewerkschaftsfunktionär, der später Generaldirektor von Urbatechnic wurde, einem Bildungsinstitut, das finanziell eng mit der sozialistischen Partei (PS) verbunden und in einen Riesenskandal verwickelt ist. Die Person, die Mérys Zeugenaussage am meisten belastet, ist allerdings Chirac selbst. Méry gesteht, "in Monsieur Chiracs Gegenwart fünf Millionen Francs in Bargeld im Büro Monsieur Roussins (des damaligen Kabinettchefs Chiracs) abgeliefert zu haben".

Le Monde rechtfertigt die Veröffentlichung des Geständnisses mit seinem "historischen" Charakter. Das Dokument liege als Videokassette vor, die der ehemalige Journalist und heutige Dokumentarfilmer und Generaldirektor von Sunset Presse, Arnaud Hamelin, aufgezeichnet habe. Le Monde erläutert weiterhin, Chirac um eine Stellungnahme gebeten zu haben, die jedoch bislang ausgeblieben sei. Verschiedene andere Personen hingegen äußerten ihre Empörung über die "frei erfundenen Märchen" und Diffamationen", die in Mérys "posthumer Beichte" enthalten seien. Im Gegenzug holte Le Monde von Gérard Monate eine Bestätigung der Aussagen Mérys ein und veröffentlichte dessen Zeugenaussage.

Der Präsident und seine Partei beeilten sich, die ganze Affäre als "Manipulation" zu bezeichnen. Trotz der Immunität, die dem Präsidenten zusteht, scheint nicht auszuschließen, daß die Justiz sich des Falls Chirac annimmt. Aber damit war die Geschichte noch längst nicht zu Ende: Als die Franzosen sich gerade bereit machten, an die Urnen zu gehen, stand nämlich in der Internetausgabe von L’Express zu lesen, das Original des Videos befinde sich in den Händen Dominique Strauss-Kahns. Erhalten habe er es von Alain Belot. Dieser ehemalige Steuerprüfer, der inzwischen als Anwalt Karriere macht, war ein Berater Mérys und arbeitete mit Kahn-Strauss zusammen, als letzterer Finanzminister in Lionel Jospins Kabinett war. L’Express zufolge kam das Video in Strauss-Kahns Besitz im Rahmen eines Vergleichs zugunsten des Modeschöpfers Karl Lagerfeld, der dem französischen Fiskus seit fünfzehn Jahren ungezahlte Steuern schuldete.

Über diese Enthüllungen konnten der Präsident und der RPR sich nur freuen. Die Sozialisten fordern nun eine Rechtfertigung ihres "Genossen" Jospin, teils gar den Ausschluß aus dem PS. Strauss-Kahn, der als Rechtsanwalt arbeitet, seit er nicht mehr Minister ist, drohen schon zwei Verfahren: eins wegen Täuschung im Skandal um die studentische Krankenversicherung, das zweite wegen Mißbrauchs öffentlicher Gelder in der Elf-Aquitaine-Affäre. Bei der gerichtlich angeordneten Durchsuchung seiner Wohnung und seines Büros – bei der sich herausstellte, daß er das Video tatsächlich erhalten hatte – gab Strauss-Kahn zu Protokoll, er habe das Video niemals angesehen. Was den Vergleich mit Karl Lagerfeld angehe, habe er nichts mit Mérys Geständnis zu tun, sondern handle sich um ein völlig normales Abkommen. Tausende von französischen "Steuersündern" vernahmen es mit Begeisterung.

Der Gegenangriff Jospins, unterstützt von dem PS, folgte auf den Fuß. Es sieht so aus, als wollten die beiden Lager sich gegenseitig bekämpfen – die Präsidentschaftswahlen stehen bevor. Patrick Devedjian – "Phrasendrescher" des RPR – sprach sich für eine Amnestie aus. Der RPR widersprach ihm sofort – allgemeines Gezeter. Philippe Séguin, Anwärter auf das Amt des Pariser Bürgermeisters, wünschte sich "Reue" von allen Beteiligten – allgemeine Erheiterung. Jean Tibéri wiederum, der amtierende Bürgermeister von Paris, profitiert von diesem ungewohnten Klima. Sein Ausschluß aus dem RPR wird in eine bloße Suspendierung verwandelt. Die PS zieht schärfere Saiten auf. Strauss-Kahn beklagt sich in Le Figaro, er sei zum Opfer "erbitterter Gier" geworden – allgemeine Verwirrung. Zum Ende der Woche mischten sich auch einige Parteigänger Chiracs ein, indem sie sich laut fragten, ob es keine Möglichkeit gäbe, das ganze Spektakel zu beenden. Zum Beispiel durch eine förmliche Intervention ihres Chefs.


 
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