© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/00 06. Oktober 2000

 
Als in Deutschland die Revolution glückte
Eine Erinnerung an die Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989
Christian Führer

Ein Blick in die deutsche Geschichte lehrt, daß wir mit Revolution im allgemeinen und der Einheit im besonderen immer Probleme hatten. Die Revolutionen 1848 und 1918 haben eine Blutspur hinterlassen und erreichten nicht die proklamierten Ziele. Bezüglich des Willens zur Einheit kann Goethe befragt werden: "Den Deutschen ist nichts daran gelegen, zusammen zu bleiben, aber doch, für sich zu bleiben. Jeder, sei er auch, welcher er wolle, hat so sein eigenes ‘Fürsich‘, das er sich nicht gern möchte nehmen lassen". Um dann zu fordern, daß sein "Reisekoffer durch alle 36 (deutschen) Staaten ungeöffnet passieren" könne und er mit seinem weimarischen Reisepaß in den anderen 35 deutschen Staaten "nicht als Ausländer angesehen" werde.

36 deutsche Kleinstaaten – und schließlich doch ein Deutsches Reich? Nicht auf parlamentarischem, auf Vernunft, Religion oder Moral sich gründenden Weg, sondern durch Krieg. Wobei sich vor Beginn des Krieges Bayern noch nicht klar war, ob es mit Frankreich gegen Preußen oder mit Preußen gegen Frankreich kämpfen wolle. Letzteres geschah. Die Einheit kam. 1871 aus Krieg entstanden. 1945 aus Krieg vertan. Wobei 1871 schon Marx und Engels bemängelten, daß nur ein "Kleindeutschland" ohne Österreich herausgekommen sei. Später hatten wir dann zwölf Jahre lang ein "Großdeutschland". Der Fall war so furchtbar wie verdient.

Nach Jahrzehnten der Teilung und Trennung dann der Herbst 1989. Im Oktober, dem Monat der Reformation und der Revolution, der Tag der Entscheidung, Leipzig, 9. Oktober. Der Geist Jesu erfaßte die Masse der Nichtchristen und Christen. Mit den Worten von Heinrich Albertz: "Zum ersten Mal in seiner Geschichte hat der deutsche Protestantismus auf der richtigen Seite gestanden – bei den Unterdrückten und nicht bei den Unterdrückern, beim Volk und nicht bei den Mächtigen." Aus den überfüllten Kirchen, die zu Katalysatoren der Veränderung wurden, in denen sich die Wandlung von Angst in Hoffnung vollzog, strömten die Menschen auf die Straßen und Plätze und zogen um die Innenstadt Leipzigs: "Keine Gewalt!" Hat es je eine kürzere und treffendere Zusammenfassung der Bergpredigt gegeben als hier und jetzt aus dem Volk geboren? "Wir sind das Volk!" Die Kerze in den Händen ist die Option für Gewaltlosigkeit. Unglaublich, diese Erfahrung mit der Macht der Gewaltlosigkeit, die die Partei- und Weltanschauungsdiktatur zum Einsturz brachte. Als wir am Abend des 9. Oktober spät zusammensaßen, beherrschte uns nur ein einziges Gefühl: Erleichterung, daß nicht geschossen worden war! Wir hatten die Kraft nicht, auszuloten, was da geschehen war. Aber eines wurde klar: Es war nicht, wie es sonst bei Revolutionen ist, daß getreten, geschlagen, gelyncht wird. Nichts davon. Es gab keine Sieger und Besiegten.

Wann wäre uns je eine Revolution gelungen? Und das noch ohne Blutvergießen? Nach der ungeheuren Gewalt an anderen Menschen, die durch Deutsche in diesem Jahrhundert geschah, dürfen wir diese Revolution der Gewaltlosigkeit als unverdiente Gnade Gottes an unser Volk annehmen, um Hoffnung für das neue Jahrtausend zu schöpfen und die Erinnerung daran fortdauernd lebendig zu erhalten. Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.

 

Christian Führer, 57, ist seit 1980 Pfarrer an der Nikolaikirche zu Leipzig. Die "Montagsgebete" waren Ausgangspunkt der Leipziger Montagsdemonstrationen.


 
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