© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/00 06. Oktober 2000

 
Rußland auf preußischem Fundament
Zwei Neuerscheinungen zur Nachkriegsgeschichte Königsbergs
Wolfgang Müller

Kein Reisebericht aus dem nördlichen, 1945 von der Roten Armee eroberten und besetzten Teil Ostpreußens verzichtet auf das Stereotyp von der "Versteppung" einer europäischen Kulturlandschaft, die das Resultat der "Sowjetisierung" dieses Teils einer ostdeutschen Provinz sei. Tatsächlich scheint keine andere europäische Region Spenglers oft als Untergangslyrik verspottete Warnung vor der "Fellachisierung" der abendländischen Kultur zu bestätigen.

Obwohl man in jeder Stadt zwischen Pillau und Ebenrode, zwischen Gerdauen und Tilsit, in jedem Dorf der russischen Exklave die Erfahrung machen kann, in ein anderes Zeitalter versetzt worden zu sein, sich auf einen fremden Kontinent verirrt zu haben, vermittelt vor allen anderen Heimweh-Expeditionen ein Besuch Königsbergs, der Hauptstadt Ostpreußens, das jetzige Kaliningrad, immer noch das Höchstmaß an Irritation. Um mit Heidegger zu sprechen, nichtet doch gerade dort das Nichts, wo sich einst auf engstem Raum das politische, kulturelle und ökonomische Leben der Provinz konzentrierte.Wer sein Geschichtswissen bemüht, der weiß, daß das Stadtbild des alten Königsberg im wesentlichen durch britische Luftangriffe im August 1944 zerstört wurde. Der hohe Anteil an abgeworfenen Phosphorbomben ist ein untrügliches Indiz dafür, daß weniger militärische Ziele, sondern primär die alten Stadtteile Tragheim, Kneiphof, Altstadt und Löbenicht und die aus Fachwerkbauten bestehende malerische Speicherstadt vernichtet werden sollten. Hier wie in Würzburg, Potsdam und unzähligen anderen deutschen Städten ging es darum, mit den Bauten auch das geistig-kulturelle Erbe der Deutschen auszutilgen.

Eine zweite Zerstörungswelle raste während der militärischen Belagerung und Besetzung im Frühjahr 1945 über die Stadt hinweg: Von den fast 5.000 Gebäuden in der Innenstadt waren 1948 nur 161 noch unbeschädigt. An die angelsächsische Intention, mit der Architektur auch die identitätsstiftende Topographie insgesamt zu zermahlen, knüpften sowjetische Stadtplaner dann Ende der vierziger Jahre an.

Der damit einsetzenden Zerstörungswelle und den "Wechselwirkungen zwischen den Wiederaufbestrebungen in der Stadt und der Identitätsbildung ihrer (neuen) Bewohner" geht der junge Berliner Historiker Bert Hoppe in einer von Karl Schlögel angeregten Arbeit über die Stadtentwicklung in Kaliningrad zwischen 1946 und 1970 nach. Hoppes Verdienst besteht darin, fast ausschließlich aus sowjetischen Quellen ein wichtiges Kapitel der Stadtgeschichte ans Licht gebracht und so das Wachsen der enteuropäisierten Brachlandschaften am Pregel verständlich gemacht zu haben. Präzise analysiert Hoppe die Etappen der sowjetischen Geschichtspolitik, die schon – auch zur Legitimation der 1946 vollzogenen Annexion – bei Kriegsende Königsberg als "böse Stadt", als Hort des "preußischen Militarismus" dämonisierte. Die Stadtplaner ließen sich von diesem negativen Mythos leiten und sahen "die Auslöschung der überkommenen Bebauung als einen Akt der politischen Hygiene" an. Im Schmelztiegel Kaliningrad sollte die Heimstätte des neuen, sozialistischen Menschen entstehen. Das planwirtschaftliche Chaos hat die Umsetzung solch hybrider Ziele vereitelt. Und in den sechziger Jahren, dies kann Hoppe ausführlich aus den Akten dokumentieren, wurde bereits leise der Abschied vom neuen Menschen eingeläutet. Erstmals stand ernsthaft zur Debatte, ob man die Identität der Kaliningrader nicht doch an Zeugnissen der 700jährigen preußisch-deutschen Geschichte der Stadt festmachen sollte. In der jüngeren Generation zeigten sich Ansätze eines ideologisch nonkonformen Lokalpatriotismus. Das war der Nährboden für den für sowjetische Verhältnisse ungewöhnlichen, letztlich jedoch erfolglosen Widerstand gegen die Abräumung der Ruine des Könisgberger Schloßes. Erst nach 1990 war dann eine wirklich offene Diskussion über die deutsche Vergangenheit, über das deutsche Fundament der russischen Existenz möglich.

Fast gleichzeitig mit Hoppes Studie ist der großformatige Band von Baldur Köster erschienen, der mit 135 Bauzeichnungen, 235 Fotografien und mustergültigen Baubeschreibungen die Königsberger "Architektur aus deutscher Zeit" erfaßt. Kösters Werk ist jedoch nicht nur retrospektiv. Ein sehr detaillierter Anhang stellt "Gedanken zur Wiedergewinnung eines historischen Stadtbildes" im Bereich des Kneiphofes vor, wo heute nur einsam der rekonstruierte Dom ein Gegenwicht zu den nahen Plattenbaufronten und der grauslichen Betonruine des aufs Schloßareal geklotzten "Hauses der Räte" bildet.

Köster hat in fünfjähriger, natürlich von keiner bundesdeutschen Institution finanziell geförderter Arbeit ein Werk erstellt, das nicht nur als unentbehrlicher Wegweiser auf der Suche nach der verlorenen Zeit zu qualifizieren ist, sondern das als schlechthin vorbildliche mikroskopische Bestandsaufnahme auf dem Schreibtisch jedes russischen Stadtplaners zu finden sein sollte.

 

Bert Hoppe: Auf den Trümmern von Königsberg. Kaliningrad 1946–1970, Oldenbourg Verlag, München, 166 Seiten, 40 Mark

Baldur Köster: Königsberg. Architektur aus deutscher Zeit, Husum Druck- und Verlagsgesellschaft, Husum 2000, 256 Seiten, Abb., Gr. Oktav, 69 Mark


 
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