© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/00 13. Oktober 2000

 
Genosse Kollaborateur
Nordrhein-Westfalen: Generalbundesanwalt Kay Nehm erhebt Anklage gegen ehemaligen SPD-Kreischef
Jutta Winckler

Generalbundesanwalt Kay Nehm hat Anklage gegen Henning Nase erhoben. Der Ex-Amtswalter der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands hat sich vor dem 4. Strafsenat des Düsseldorfer Oberlandesgericht zu verantworten. Dem vormaligen Chef der SPD Rhein-Sieg wird vorgeworfen, "in den achtziger Jahren Staatsgeheimnisse an das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik verraten und dadurch die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland herbeigeführt zu haben", so die Pressestelle des OLG. Es bestehe der Verdacht des schweren Landesverrats.

Laut Anklageschrift soll Nase sich "ab 1969 zur Spionage für die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der Ex-DDR verpflichtet" haben. Unter dem Decknamen "Dorn", heißt es weiter, habe er der "Abteilung II der HVA – zuständig für die Ausforschung der SPD und der Gewerkschaften – von 1972 bis zur Wende 1989 Berichte und Dokumente geliefert".

Das Material soll er aus seinem Arbeitsbereich im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung sowie im Zuge seiner parteipolitischen Tätigkeit bei der SPD beschafft haben. "Insbesondere als persönlicher Referent des Parlamentarischen Staatssekretärs (1979 bis 1982) und als Leiter des Referats ’Allgemeine Fragen der internationalen Sozialpolitik‘ (1983 bis 1989) hat Nase ungehinderten Zugang zu den Ressorts und Gremien der Bundesregierung und des Bundestages gehabt." Der Generalbundesanwalt verweist unter anderem auf ein Protokoll über eine Kabinettsitzung der Bundesregierung im Jahr 1982 und vier Niederschriften über Sitzungen des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages aus den Jahren 1985/86, die "Staatsgeheimnisse" enthielten, die Henning Nase "dem MfS übergab". In den jeweiligen Sitzungen waren Angelegenheiten der Landesverteidigung – insbesondere die Beschaffung von Waffensystemen – erörtert worden.

"Vor dem Hintergrund der damaligen Spannungen zwischen Ost und West und dem Rüstungswettlauf der beiden Blöcke Nato und Warschauer Pakt entstand durch den Verrat der in den Protokollen enthaltenen Informationen die konkrete Gefahr eines schweren Nachteils – bei einem der Protokolle sogar die Gefahr eines besonders schweren Nachteils – für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland", so die Bewertung der Generalbundesanwaltschaft. Der zuletzt in Belgien ansässige Nase wurde aufgrund eines Haftbefehls des Bundesgerichtshofs vom 18. April 2000 am 5. Mai im Saarland festgenommen und befindet sich seither in Untersuchungshaft. Gegen den vormaligen SPD-Kreisverbandschef war bereits 1996 wegen des Verdachts der geheimdienstlichen Agententätigkeit für das MfS Anklage erhoben worden; das Oberlandesgericht Düsseldorf stellte allerdings das damalige Verfahren am 9. Juli 1998 ein, nachdem Sozialistenfreund und "Systemverräter" Nase in der Hauptverhandlung den damaligen Vorwurf der Anklage eingeräumt und als Auflage 200.000 Mark an die Staatskasse gezahlt hatte.

Zu Beginn des Jahres 1999 aber tauchten neue Verdachtsmomente auf: DDR-Archäologen Gaucks hatten ein Nase belastendes Akten-Puzzle zusammensetzen können; die Generalbundesanwaltschaft nahm daraufhin die Ermittlungen wieder auf. Die gerichtliche Einstellung des ersten Verfahrens, so der Gerichtssprecher, schließe eine erneute Strafverfolgung nicht aus, weil es sich bei dem jetzt erhobenen Vorwurf des Landesverrats um ein Verbrechen handelt, weshalb die Wiederaufnahme der Ermittlungen zulässig sei.

Besonderes Augenmerk verdient in diesem Zusammenhang, ob, wann und in welcher Intensität hiesige Staatsanwälte sich jenem Material widmen werden, das in absehbarer Zeit aus nordamerikanischen Archiven an zuständige BRD-Behörden zurückgegeben werden wird: Komplette Personalakten aus dem MfS über sein im Westen installiertes bzw. beim Klassenfeind angeworbenes Agentenkorps. Im Zuge ähnlich obskurer Vorgänge der 1990er "Wende"-Zeit war mit Dollars wohlversehenen CIA-Operateuren der Transfer besagter Dateien von Ost-Berlin zur US-Ostküste gelungen. So gehört gewiß auch Henning Nase zu jenem zigtausend Köpfe zählenden gesellschaftlichen Subsegment, das gegen finanzielles Entgelt, höchst selten aus "Idealismus", zur Kollaboration bereit war: Die Palette solcher Politkriminellen reicht vom sozialdemokratischen Schlagermillionär Dieter Dehm über die notorische Bonner Beischlaf-Sekretärin bis zu Willi "Werder" Lemke, dem alerten Fußball- und Bildungsmanager aus Bremen.

Das US-Material dürfte, soweit es überhaupt – in kopierter Form(!) – zurückgegeben wird, von seiner Brisanz nichts eingebüßt haben und der einschlägig versierten US-Administration (bzw. anderen "Diensten") gute Dienste leisten. Der "interessierte Dritte" (Carl Schmitt) solch deutsch-deutscher Illoyalitäten sitzt, nicht nur in diesem Fall, eher westlich. Doch seit aus uns Deutschen "das glücklichste Volk der Welt" (West-Bürgermeister Momper im Herbst 1989) geworden ist, wir uns "zum ersten Mal in unserer Geschichte nur von Freunden umgeben" (Johannes Rau) fühlen dürfen, betrachtet man Landesverrat hierzulande, zumal bei grassierendem Schwund nationalstaatlicher Eigenverantwortung, als Kavalierdelikt.


 
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