© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/00 13. Oktober 2000


Eine gespenstische Revolution
Serbien: Nach dem auf der Straße erzwungenen Machtwechsel in Belgrad richten sich alle Blicke auf den neuen Präsidenten
Carl Gustaf Ströhm

Der plötzliche "Machtwechsel" in Serbien bzw. Rest-Jugoslawien hat bei westlichen Politikern und Medien uneingeschränkte und weitgehend unkritische Beifallstürme ausgelöst. Alles spricht vom "Triumph der Demokratie" in Belgrad, wo Hunderttausende auf die Straße gingen. Die "friedliche" Belgrader Revolution wurde mit der "samtenen Revolution" in der CSSR und den Leipziger und Ostberliner Demonstrationen verglichen, die 1989 zum Sturz des Kommunismus führten.

Die wenigsten merkten, daß die Akzente in Belgrad diesmal anders lagen. Das westliche Fernsehen brachte Bilder von lachenden jungen Mädchen – aber gleich daneben standen Männer mit den typischen serbischen Sajkaca-Mützen, dem Symbol der ultranationalistischen Tschetnik-Bewegung. Neben serbischen Fahnen wurden russische Flaggen und schwarze Tschetnik-Fahnen geschwenkt. Amerikanische oder Europa-Fahnen waren nirgends zu sehen.

Die häßliche Seite der "friedlichen Revolution" wurde kaum gezeigt: Demonstranten, die angeblich für die parlamentarische Demokratie eintraten, stürmten das Parlamentsgebäude und plünderten es gründlich: Zahlreiche wertvolle Gemälde und Teppiche wurden weggeschleppt, bevor man die Parlamentsakten auf die Straße warf und das Gebäude in Brand setzte. Diese Revolution war also nicht ganz so "samten", wie der Westen es gern gehabt hätte.

Der Westen aber war voll auf den Sieg Kostunicas, des demokratischen Oppositionskandidaten, programmiert – ja, dieser wurde sogar zu einer Zeit in Washington und Brüssel zum Wahlsieger proklamiert, da die Wahlen noch nicht einmal beendet waren. Westliche Politiker bedienten sich dabei einer seltsamen Logik. Die Wahlen in Serbien, so sagten sie, seien manipuliert, verfälscht und folglich nicht frei. Nach einer solchen Feststellung hätte man eigentlich erwartet, daß die westliche Politik erklären würde, solche Wahlen seien folglich ungültig und müßten wiederholt werden. Aber nichts dergleichen – im Gegenteil: Man kam zu dem mehr als seltsamen Schluß, daß – weil die Wahlen unfrei und gefälscht waren – die Opposition und deren Kandidat Kostunica gesiegt hätten. In Belgrad munkelt man, westliche Regierungen und halbstaatliche Organisationen hätten mehrere Millionen Dollar in den Wahlkampf der serbischen Opposition "investiert". (Ähnlich hatte der Westen schon zuvor in den seinerzeitigen kroatischen Wahlkampf – mit Erfolg – eingegriffen.)

Seltsam war auch das Verhalten des Slobodan Milosevic, der im ganzen Westen als "schwarzer Teufel" und "Verkörperung des Bösen" angesehen wurde. Ihm traute man angesichts des Registers seiner Untaten von Kroatien über Bosnien bis ins Kosovo alles Schlechte zu – inklusive der Entfesselung eines Bürgerkrieges zwecks Machterhaltung. Aber der "Beelzebub" Milosevic blieb eigenartigerweise während des Wahlkampfes passiv, und auch seine prügelerprobte Polizei blieb untätig. Fast schien es so, als habe Milosevic seine Sache schon vorher verlorengegeben; manche Beobachter meinen sogar, es könne zwischen Kostunica und ihm ein stillschweigendes Übereinkommen gegeben haben, das den Machtwechsel auf relativ unblutige Weise regeln sollte.

Was die Demonstranten betrifft, so erinnern sich nur wenige daran, daß das selbe "Volk" von Serbien, das jetzt gegen Milosevic aufstand, noch vor zehn Jahren ganz ähnliche Demonstrationen für ihn und gegen seine Gegner veranstaltete. Auch bleibt zumindest der Verdacht, viele der aufgebrachten Belgrader hätten Milosevic nicht so sehr übel genommen, daß er die Nachbarvölker Serbiens – Kroaten, bosnische Moslems, Kosovo-Albaner – mit Krieg, Mord und Brand überzog, sondern vielmehr, daß er die Kriege, die er zum Ruhme Groß-Serbiens führen wollte, allesamt verloren hat.

Eine weitere Eigentümlichkeit findet sich in der Person des siegreichen Kandidaten der demokratischen Opposition. Denn Vojislav Kostunica bezeichnet sich selber ungeniert als "serbischen Nationalisten". Westliche Medien fügen bereits vorauseilend apologetisch hinzu, er sei zwar – horrible dictu – tatsächlich ein Nationalist, aber ein "gemäßigter", und überdies sei er ein "Demokrat", der bereits 1974 von den Kommunisten verfolgt und von der Universität gewiesen wurde. Vergessen wird dabei, aus welchem Motiv Kostunica sich seinerzeit mit den Tito-Kommunisten überwarf: er, der "Serbe aus dem Herzen Serbiens" (so Kostunica über sich selber), hatte die von Tito 1974 verkündete Verfassung des "sozialistischen" Jugoslawien kritisiert, weil diese den nicht-serbischen Nationalitäten, unter anderem den Kosovo-Albanern, zu große Freiheiten in nationaler Beziehung einräumte.

Seltsames Verhalten des Westens gegenüber Kostunica

Wie seltsam das Verhalten des Westens gegenüber Kostunica ist, zeigt sich an folgenden Beispielen. Der erste kroatische Präsident Franjo Tudjman wurde vom Westen wegen der manchmal eigenwilligen und "störrischen" Haltung des Kroaten gegenüber westlichen Forderungen als "Nationalist" beschuldigt. Gleichzeitig wurde den Kroaten zu verstehen gegeben, ein Nationalist könne unmöglich Staatschef eines in Europa integrierten Landes sein. Tudjman selber hat sich übrigens niemals als "Nationalist" bekannt. Dem Serben Kostunica billigt der Westen jetzt jenen "Nationalismus" zu, der im Falle der Kroaten suspekt erscheint. Wenn zwei dasselbe tun, so ist es eben nicht dasselbe.

Zum anderen verlangte der Westen bis hart an die Grenze des Ultimatums von den Kroaten die bedingungslose Zusammenarbeit mit dem Haager Kriegsverbrechertribunal. Noch unter Tudjman mußten die Kroaten mehrere kroatische Militärs, die verdächtigt wurden, während des bosnischen Krieges Kriegsverbrechen begangen zu haben, an Den Haag ausliefern. Einer von ihnen wude zu 45 Jahren Haft (!) verurteilt. Weitere Auslieferungen hoher kroatischen Offiziere stehen bevor.

Kostunica, der – im Gegensatz zu den finanziell ausgehungerten Kroaten – vom Westen und der EU milliardenschwere Hilfszahlungen zugesichert erhielt, hat die Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal schlichtweg abgelehnt und über diesen Gerichtshof wörtlich erklärt: "Das Kriegsverbrechertribunal ist eher eine politische als eine rechtsprechende Institution. Es dient als Waffe der USA zur Unterdrückung." Den Angriff der Nato auf Jugoslawien während der Kosovo-Krise bezeichnet Kostunica als "verbrecherisch". Wörtlich: "Viele Länder haben sich an Jugoslawien versündigt. Diese Verbrechen können wir nicht vergessen!" Kostunica hat überdies erlärt, er werde weder Milosevic noch irgendeinen anderen Serben an das Ausland ausliefern.

Hätte es ein kroatischer oder bosnisch-moslemischer Politiker gewagt, eine auch nur annähernd ähnliche Erklärung abzugeben – ein Entrüstungssturm der westlichen Medien und Politzentralen wäre gewiß gewesen. Warum diese Nachsicht gegenüber dem serbischen Hoffnungsträger der Demokratie?

Offensichtlich sind starke Kräfte des Westens der Meinung, daß Serbien (Rest-Jugoslawien) als "Ordnungsmacht" und als Gegengewicht gegen den bosnischen Islam erhalten werden muß(Verhinderung einer moslemischen Republik auf europäischem Boden). Zugleich soll nach Auffassung dieser Kräfte ein neu erstarkendes Serbien den (potentiellen) Einfluß Deutschlands (und Österreichs) im Südosten konterkarieren. Die Serben gelten als traditionelle Freunde der Franzosen (und Russen). An der Belgrader Festung Kalemegdan steht noch heute das serbische Denkmal des "Dankes an Frankreich" mit der vielsagenden Inschrift: "Wir lieben Frankreich, so wie es uns geliebt hat – in den Jahren 1914 bis 1918." So wird verständlich, warum Präsident Chirac als einer der ersten die sofortige Aufhebung der Sanktionen und die so gut wie bedingungslose Aufnahme des "neuen" Jugoslawien in die europäische Integration forderte. Die zum Teil bewußt geschürte "Begeisterung für die neu erwachte serbische Demokratie" soll auch die Untaten serbischer Truppen in den kroatischen Städten Vukovar (Massengräber mit über 2.000 Toten), in Dubrovnik, in der Krajina und im dalmatinischen Hinterland (Beschießung ziviler Wohnviertel in der Hafenstadt Zadar) überdecken – ebenso wie den Massenmord an mindestens siebentausend Moslems in Srebrenica 1995, unter den Augen niederländischer UNO-Truppen!

Der Westen sieht sogar über den "Schönheitsfehler" hinweg, daß Kostunica – bevor er (immerhin Hoffnungsträger des Westens auf dem Balkan) mit irgendeinem westlichen Staatsmann Kontakt aufgenommen hatte, als erstes mit dem russischen Außenminister Iwanow sprach, der prompt in Belgrad erschien. Die eigentliche Überraschung war nicht so sehr, daß Moskau den Wahlsieg Kostunicas akzeptierte, sondern, daß Iwanow neben Kostunica auch noch den geschlagenen Milosevic besuchte, sich mit ihm vor die Fernsehkameras setzte und anschließend erklärte, Milosevic habe die Absicht, in der serbischen Politik zu bleiben und als Führer der immer noch stärksten Partei – der Sozialisten – eine wichtige Rolle zu spielen. Der von vielen westlichen Medien belächelte und bagatellisierte Auftritt Iwanows in Belgrad erinnerte ein wenig an das Märchen vom Hasen und vom Igel. Der russische Igel sagte dem verdutzten Westen: "Ich bin schon hier!" Die Russen können sich rühmen, einen Gesprächsfaden zwischen Kostunica und Milosevic hergestellt zu haben. Es ist kaum vorstellbar, daß sich ein russischer Außenminister mit Milosevic fotografieren lassen würde, wenn auch nur die geringste Gefahr bestünde, daß letzterer in Handschellen nach Den Haag überführt wird. Das heißt: die Russen gaben gegenüber den Serben die Garantie ab, daß Moskau auch in Zukunft den Fuß in der Balkan-Tür behalten und die Amerikaner und den Westen daran hindern wird, dort die Macht zu übernehmen.

Um das Kosovo könnte ein neuer Konflikt entbrennen

Kostunica hat zu diesem Thema bereits einen Beitrag geliefert. Das serbische Volk, so sagte er, wünsche weder vom "Weißen Schloß" (der Residenz Milosevics) noch vom Weißen Haus (in Washington) kommandiert zu werden. Kostunica weiß genau, warum er so etwas sagt: die meisten Serben sind gegen die Nato und gegen die Amerikaner, denen sie – wenn auch zu Unrecht – die Schuld an der "Separation" der katholischen (und schon deshalb suspekten) Kroaten, Slowenen und der bosnischen Moslems geben. Schließlich hat Kostunica bereits angekündigt, jetzt, da Serbien demokratisiert sei, müsse auch das zu 95 Prozent von Albanern besiedelte Kosovo an Jugoslawien zurückgegeben werden. Hier droht der nächste, womöglich blutige Konflikt, denn die Albaner des Kosovo wollen unter keinen Umständen mehr eine serbische oder jugoslawische Verwaltung akzeptieren. Der Westen und die Nato könnten hier in sehr unangenehme Situationen geraten.

Nur grenzenlose Naivlinge wie Deutschlands derzeitiger Außenminister können in der Illusion leben, man könne die Südostlage durch "Multikulti" und dann auch noch mit "Hilfe" der Russen konsolidieren. Kostunica könnte für den Westen noch eine harte Nuß werden, Das Problem liegt darin: Nachdem man ihn einmal so hochgelobt hat, sollte man sich nicht wundern, wenn er seinerseits knallharte Bedingungen stellt. Als ein österreichischer Rundfunkreporter ihn in der entscheidenden Belgrader Nacht fragte, was er denn zu tun gedenke, um das serbische Volk wieder nach Europa zu führen, erhielt er von Kostunica die Antwort: Serbien sei stets ein Teil Europas gewesen – und es sei nicht Sache der Serben, sondern jener Regierungen, die Serbien bis jetzt von Europa ferngehalten hätten, ihre Haltung zu ändern.

Ein weiterer Zankapfel und Stolper-stein könnte Montenegro werden, dessen Präsident Mile Djukanovic bereits erklärte, er erkenne Kostunica nicht als jugoslawischen Präsidenten an. Dieser wird im Kampf um Montenegro vielleicht subtilere Methoden anwenden als der grobschlächtige Milosevic. Aber es besteht kein Zweifel, daß Kostunica darauf aus ist, den "Separatismus" der Montenegriner zu konterkarieren. Sollten die Montenegriner hart bleiben, ist eine Fortsetzung des unter Milosevic begonnenen Konfliktes nicht auszuschließen.

Denn Kostunica ist ja auf paradoxe Weise ein Gefangener des Milosevic-Regimes. Er kann die Medien "demokratisieren" – was in diesen balkanischen Breiten bedeutet, daß die selben Journalisten, die bis gestern kritiklos über Milosevic schrieben, jetzt ebenso kritiklos und lobhudelnd über Kostunica berichten werden (solange dieser stark und mächtig ist). Aber die eigentlichen Strukturen des serbischen Staates wird Kostunica schwerlich ändern können – insofern ist die Tatsache, daß Armee, Polizei und Beamtenapparat fast schmerzlos auf seine Seite übergingen, doch auch ein Alarmsignal. Denn in diesem Apparat stecken alle jene, die in Kroatien und Bosnien geplündert, gebrandschatzt und gemordet haben: alle die "ethnischen Säuberer". Diese Leute werden getragen von einer breiten Schicht, die immer noch dem "mythischen" Gedanken an ein "Groß-Serbien" nachhängt, das berufen sei, die anderen slawischen Völker des Balkans zu führen und zu befreien. Milosevic war nicht der Erfinder dieses Mythos, der sich aus der Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo polje) 1389 legitimiert. Der Kosovo-Mythos vom heiligen Serbien hat lange vor Milosevic bestanden und wird lange nach ihm auch noch existieren. Einiges spricht dafür, daß der "gemäßigte" Nationalist Kostunica auch ein "gemäßigter" Anhänger dieses Mythos ist. Wie schnell aber solche Mythen außer Kontrolle geraten, haben einige Nachbarn Serbiens nach 1990 auf oft blutige Weise erlebt.

Der Westen steckt tief im balkanischen Schlammasel

Ein amerikanischer Kommentator des sonst oft oberflächlichen Fernsehsenders CNN hat den Machtwechsel in Serbien geistreich und zutreffend mit der Bemerkung quittiert, der Westen sei bereit, mit Ausnahme des "schwarzen Teufels" jeden als Führer Serbiens und Gesprächspartner zu akzeptieren. Der springende Punkt aber ist nicht, ob Kostunica ein Demokrat ist, sondern vielmehr: ob er den einfachen Kosovaren, die nichts anderes akzeptieren als eine unabhängige albanische Republik, das Recht auf Demokratie und Selbstbestimmung zuerkennt, ob er den Ungarn in der Vojvodina die Autonomie gewähren wird, die sie verlangen – oder ob er sich am Ende gegenüber seinen Minderheiten so verhalten wird wie Rußland gegenüber den Tschetschenen.

Wenn seine Auffassung von Demokratie sich darauf beschränken sollte, nur den Serben demokratische Rechte zu gewähren – den fast 33 Prozent Nicht-Serben innerhalb Serbiens aber nicht –, dann wäre nichts gelöst und nur die nächste Runde auf dem Balkan-Karussell eingeläutet.

Mag sein, daß der Westen eines Tages dem guten alten "Slobo" noch eine Träne nachweinen wird: denn solange dieser an der Macht war, konnte der Westen die Rolläden herrunter- und Serbien im eigenen Saft schmoren lassen. Jetzt aber, mit dem Hoffnungsträger Kostunica, steckt der Westen mittendrin im balkanischen Schlamassel. Erfüllt zum Beispiel Kostunica die in ihn gesetzten Hoffnungen der Serben nicht, könnte er eines Tages ebenso ausgebuht und abgewählt werden wie Milosevic – und wie seinerzeit, in den achtziger Jahren, die von Milosevic gestürzten KP-Politiker. Nicht umsonst galt Serbien lange als das klassische Land der Königsmorde (zuletzt Sturz und Ermordung der Dynastie Obrenovic 1903). Auch ein "demokratisierter" Balkan eignet sich nicht als Spielwiese für Weltverbesserer aus dem Westen.


 
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