© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/00 13. Oktober 2000

 
Störrisches Bergvolk
Frankreich: Die Savoyer wollen von den Autonomiebestrebungen profitieren / Parteitag beschließt Teilnahme an Wahlen
Charles Brant

Der jakobinische Staat sieht sich schweren Anfechtungen ausgesetzt und verliert zunehmend an Terrain. Die Ligue savoisienne (Savoyische Liga) hat auf ihrem fünften Parteitag beschlossen, sich an den kommenden Wahlen zu beteiligen.

Zeitigt das korsische Modell schon erste Wirkungen? Sicher ist jedenfalls: Die Ligue savoisienne hat bei ihrem Parteitag am 30. September und 1. Oktober beschlossen, im nächsten Jahr Kandidaten für die Neuwahlen in etwa dreißig Bezirken in Savoyen und Ober-Savoyen aufzustellen. Bei den Stadtverwaltungen überläßt die Ligue es ihren Ortsgruppen, eigene Listen aufzustellen oder sich für ein Bündnis mit anderen Parteien zu entscheiden. Hier bahnt sich eine entscheidende Wende an, denn bislang hat die Ligue immer so getan, als gingen die vom französischen Zentralstaat organisierten Wahlen sie nichts an – eine logische Behauptung insofern, als sie die politische Unabhängigkeit Savoyens vertritt.

Woher rührt also jetzt plötzlich diese Umorientierung? Die überraschende Wahl ihres Generalsekretärs Patrice Abeille in den Regionalrat Rhone-Alpes vor zwei Jahren hat dabei sicher keine unbedeutende Rolle gespielt. Hinzu kommen die Wahlerfolge der italienischen Lega Nord, der die Ligue savoisienne erklärtermaßen sehr nahesteht. Und nicht zuletzt besteht ein eindeutiger Wille, nicht mehr lediglich symbolisch aktiv zu sein – wie etwa durch die Bildung einer Exilregierung in Genf –, sondern die Brüche im Zentralstaatsgefüge auszunutzen und zu vergrößern, die sich aufgetan haben, als die französische Regierung Korsika eine teilweise Unabhängigkeit nach dem Vorbild der britischen "Devolution" zusicherte (die JF berichtete).

Seit ihrer Gründung 1995 hat die Ligue savoisienne kontinuierlich an Einfluß gewonnen. Eigenen Angaben zufolge hat sie inzwischen um die 4.700 Anhänger. Ihr Generalsekretär, ein aus dem Milieu der Alt-68er stammender ehemaliger Kommunist, geht davon aus, daß sie derzeit zwischen sechs und zehn Prozent der Stimmen in Savoyen bekäme. Auf ihrem letzten Parteitag, bei dem etwa 500 Delegierte anwesend waren, begrüßte sie zahlreiche Delegationen autonomistischer und föderalistischer Gruppen aus der Bretagne, dem Elsaß, dem Baskenland, Katalonien, Korsika, Val d’Aosta und Piemont. Hier zeigt sich schon, daß ihre Strategie europäisch ausgerichtet ist. Die Ligue gehört der Parti démocratique des peuples d’Europe – Alliance libre européenne (PDPE-ALE) an, einem Bündnis demokratischer Volksparteien, das mit zehn Abgeordneten im Europaparlament vertreten ist.

Alles begann mit der Wiederbelebung einer alten Forderung: daß das in zwei Départements – Ober- und Nieder-Savoyen – aufgeteilte Savoyen zu einer "Region" zusammengefaßt wird. Diese Idee, die ursprünglich aus den sechziger Jahren stammt, wurde von zwei Abgeordneten, Michel Bouvard und Bernard Bosson, wiederaufgenommen. Sie brachten eine Gesetzvorlage ein, um eine Region Savoyen zu schaffen, als sich herausstellte, daß es in der Region Rhone-Alpes, die sich von Montélimar bis Chamonix erstreckt, aus Mangel an innerem Zusammenhalt zunehmend zu sozialen Spannungen kam. So fragte man sich in Chamonix oder Annecy nicht ganz zu Unrecht: Was geht uns zum Beispiel der Flughafen von Lyon an? Man wollte nicht länger zusehen, wie Savoyen zur Melkkuh ganz Frankreichs wurde.

Die geographische Nähe zu Genf und der Schweiz insgesamt gab Anlaß zu Vergleichen und der Einsicht, daß an der eigenen Lage vieles zu verbessern wäre. Dabei handelte es sich keineswegs nur um eine wirtschaftliche und verwaltungstechnische Frage. Wenn die Savoyer stolz auf ihr Wahrzeichen, das weiße Kreuz, sind; wenn sie von einem autonomen Bundesstaat träumen; wenn sie sagen, ihre Berge seien keine Grenzen; wenn sie aufmerksam nach Italien schauen, wo die Lega Nord einen Erfolg nach dem anderen verbuchen kann – dann geht es hier ganz offensichtlich um etwas anderes. Es geht nämlich um viel tiefere Ursachen, die mit der Geschichte und der Kultur dieses einmaligen Staates zu tun haben.

Die Savoyer haben sich schon immer als besonderes Volk empfunden. Mit der Sprache hat das nichts zu tun. Sie sprechen schon seit Jahrhunderten französisch. Ihre eigentliche Sprache stammt aus dem Romano-Provenzalischen. Was ist es dann, das ihre Eigenheit ausmacht? Ganz einfach: Die Savoyer wollen nicht, daß ihr Staat zu einem touristischen Reservat wird, das von Paris oder Lyon aus beherrscht wird. Sie wollen die Möglichkeit haben, ihr eigenes Schicksal bestimmen zu können und selbst zu entscheiden, welche Beziehungen sie zu ihren Nachbarvölkern pflegen wollen. Sie wollen sich darauf besinnen dürfen, daß ihre Heimat einst ein Staat und die Wiege einer europäischen Dynastie war.

Noch vor seiner Herrschaft über das Königreich Piemont-Sardinien und über Italien vereinte das Haus Savoyen unter seiner Autorität Bugey, Maurienne, Tarentaise, Genevois, Faucigny und Chablais. Als "Hüter der Berge" spielte das Haus Savoyen, dessen Name sich von "Sapaudia" ableitet, eine privilegierte Rolle, die ihm gestattete, seine Nachbarn gegeneinander auszuspielen. Vom Genfer See über die Rhone bis zum Val d‘Aosta kontrollierte es die Beziehungen mit Frankreich, Italien, der Schweiz, Europa zwischen Donau und Rhein und dem Mittelmeerraum. Die Hauptstadt Chambéry, Residenz der Grafen und Herzöge von Savoyen und späteren Könige, galt als "Schaltstelle" der Alpen.

Heute wacht am Ufer des Sees von Bourget die Abtei Hautecombe über die Gräber der Dynastie. Genau 41 Fürsten und Fürstinnen fanden hier ihre letzte Ruhestätte, die meisten vereint in der "Fürstenkapelle". Der älteste von ihnen war Humbert III., er starb im Jahre 1189. Die Savoyer machten auf sehr unterschiedliche Art von sich reden. Amédée VIII. etwa war der spätere Gegenpapst Félix V. Victor-Amédée III. erwies sich als erbitterter Gegner der französischen Revolution, die zu dem Bauernmassaker von Méribel und schließlich zur Besetzung Savoyens führte.

Diese erste französische Annexion Savoyens, das in die Départements Mont-Blanc und Leman aufgeteilt wurde, nahm ihren Anfang 1796, im Todesjahr Victor-Amédées III. Sie endete mit dem Fall Napoleons. So verpaßte Savoyen die historische Gelegenheit, sich der helvetischen Konföderation anzuschließen. Die zweite Annexion im Jahre 1860 wurde von der Schweiz mit Mißtrauen beobachtet; sie forderte daraufhin die Gebiete Chablais und Faucigny zurück. Zum Anschluß an Frankreich, der im Vertrag von Turin beschlossen wurde, fand zwar ein Volksentscheid statt, der jedoch von der französischen Armee überwacht wurde und bei dem es weder Wahlkabinen noch die Möglichkeit gab, eine Neinstimme abzugeben. Savoyen wurde zur Freihandelszone, um den freien Verkehr mit Genf sicherzustellen, seine Universitäten geschlossen. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß das Haus Savoyen ein Jahr, nachdem das Land, das seinen Namen trug, zu existieren aufhörte, den italienischen Thron besteigen durfte.

Den Franzosen ist diese glorreiche Vergangenheit weitgehend unbekannt. In ihren offiziellen Geschichtsbüchern finden die Savoyer kaum Erwähnung. Sie verschweigen, daß ihre hohe Geburtenrate die jungen Savoyer vom 18. Jahrhundert bis in die 1930er Jahre hinein zwang, ihr Glück im Exil zu suchen: in Frankreich, in der Schweiz, in Deutschland und nicht zuletzt in Österreich, wo in Wien eine bedeutende savoyische Kolonie existiert, in Nord- und Südamerika und anderen fernen Ländern. Paris erlebt derzeit ein böses Erwachen bei der Entdeckung, daß es dem jakobinischen Zentralismus nicht gelungen ist, diesem störrischen und überaus lebendigen Bergvolk seine Staatsräson aufzustülpen.


 
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