© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/00 13. Oktober 2000

 
Kritik, die nicht vergehen will
Martin Walser soll mit dem Preis "Das unerschrockene Wort" ausgezeichnet werden
Thorsten Thaler

Zwei Jahre nach seiner vielbeachteten Dankesrede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Oktober 1998 gibt es einen erneuten Streit um diese Rede des Schriftstellers Martin Walser. Anlaß ist die von der Stadt Halle vorgeschlagene Auszeichnung Walsers mit dem Preis "Das unerschrockene Wort". Der Wittenberger Theologe Friedrich Schorlemmer "empörte" sich in der Leipziger Volkszeitung über die geplante Ehrung. "Walsers Worte waren nicht unerschrocken, sie waren unverschämt", sagte Schorlemmer.

Martin Walser hatte in seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche vor einer Instrumentalisierung von Auschwitz gewarnt und sich kritisch mit einer "Dauerpräsentation unserer Schande" auseinandergesetzt. "Wenn ich merke, daß sich etwas in mir dagegen wehrt", so Walser, "versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf Motive hin abzuhören, und bin fast froh, wenn ich glaube, entdecken zu können, daß öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung."

An anderer Stelle sagte Walser: "Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch solche Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität Lippengebet. Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein normales Volk, eine gewöhnliche Gesellschaft?"

Nach der Rede kam es zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, und Walser. Bubis bezichtigte den Schriftsteller der "geistigen Brandstiftung". Wochenlang füllte der Streit um Walsers Rede und Bubis’ Reaktion die Feuilletonspalten.

Die Kritik an der auf Initiative der CDU im Stadtrat von Halle vorgeschlagenen Auszeichnung Walsers mit dem Preis "Das unerschrockene Wort" zeichnet diese damalige Debatte jetzt auf eigentümliche Weise nach. Friedrich Schorlemmer nannte die Nominierung eine "gefährlich-falsche Entscheidung", an der seine Kritik nicht verstummen werde. Die Jüdische Gemeinde Halle äußerte sich unmittelbar nach Bekanntwerden des Vorschlags ebenso bestürzt wie der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel. In einem Interview mit dem NachrichtenRadio MDR info sagte er unter Hinweis auf Walsers Friedenspreisrede, er halte das "für ein unglaublich fatales Zeichen". Walser habe genau gewußt, welchen "Flächenbrand" er damit auslöse. Zwar wolle niemand Walser in die rechtsradikale oder antisemitische Ecke stellen, sagte Spiegel. Aber der Schriftsteller habe so auch "Neonazis und Rechtsradikalen Munition für ihre Argumentation geliefert". Das ist nichts anderes als der Vorwurf "geistiger Brandstiftung", mit dem Spiegels Amtsvorgänger Bubis den Großschriftsteller diffamiert hatte.

Martin Walser entgegnete, seine Leser würden keine Bomben werfen. Auf Anfrage der Nachrichtenagentur dpa, ob er seine Rede vor dem Hintergrund der jüngsten antijüdischen Gewalttaten genauso gehalten hätte, sagte er: "Leute, die Molotow-Cocktails schmeißen, kennen meine Texte nicht. Ich reiche nicht über das Feuilleton hinaus."

Halles Stadtsprecher Furchert verteidigte die Nominierung Walsers. Die Stadt wehre sich ganz entschieden dagegen, in eine rechtsradikale Ecke gedrängt zu werden. Auch Oberbürgermeisterin Ingrid Häußler stehe voll zu dem Beschluß. Nach Ansicht der im März dieses Jahres ins Amt gewählten SPD-Politikerin habe Walser die differenzierte Auseinandersetzung jedes Einzelnen mit der Geschichte verlangt. Gerade das Beispiel der DDR zeige, daß es nichts nütze, auf die Gesellschaft mit Ritualen und Symbolen einzuwirken. Buchenwald und Auschwitz seien permanent thematisiert worden, und dennoch müsse jetzt im Osten der Rechtsextremismus bekämpft werden.

Daß jetzt erneut das "gewollte Mißverstehen" um die Walser-Rede aufbricht, hat indes auch mit dem Verfallsdatum von Nachrichten in der modernen Medienlandschaft zu tun. Niemand scheint sich mehr an die Auszeichnung des Rhetorik-Instituts der Eberhard-Karls-Universität Tübingen zu erinnern, die Walser Friedenspreisrede zur "Rede des Jahres 1998" kürte. Dabei lohnt es sich, die Begründung heute noch einmal nachzulesen. Die Wahl sei auf Walser Rede gefallen, "weil sie in der Tradition der großen humanistischen Beredsamkeit in Deutschland für die ideologisch verfestigten Meinungsschranken unserer Mediengesellschaft die Augen öffnet, sich gegen das organisierte Zerrbild von Gewissen, Moral, Schuldbewußtsein wehrt, das in Grausamkeit gegen die Opfer umschlägt, und schließlich für Vertrauen und Hoffnung in die Zukunft plädiert, ohne die Kraft zur Trauer zu schwächen".

Walser habe mit selbstkritischen und ironischen Untertönen den Meinungsbetrieb in seiner "manchmal gutgläubigen, doch meist zynischen Doppelbödigkeit" aufgedeckt und als Instrument der ideologischen Machtausübung, als profitables Mediengeschäft und intellektuelle Inszenierung erkennbar gemacht. Zum Schluß der Würdigung heißt es dann wörtlich: "Die maßlose und hämische Kritik an dieser in rhetorischem Ethos, schlüssiger Argumenta-tion und leidenschaftlichem Engagement für eine menschenwürdige Zukunft vorbildlichen Rede bestätigt deren Thesen so eindrucksvoll wie bedrückend." Das gilt heute noch genauso.


 
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