© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/00 13. Oktober 2000

 
Der Furor des Verschwindens
Der Nihilismus in Aktion: Peter Sloterdijk verheißt das Abenteuer einer gottfernen Welt
Wolfgang Saur

Die hochalpine Gemeinde Lech/Vorarlberg, als Tourismusziel weltbekannt, hat 1997 eine philosophische Sommerakademie ins Leben gerufen, die im September nun schon ihre vierte Tagung durchführte – und zwar über das brisante Thema: "Der Vater aller Dinge. Nachdenken über den Krieg". Unter den Referenten finden sich dabei so illustre Namen wie Alexander Demandt, Friedrich Kittler oder Herfried Münkler, allesamt in Berlin nicht unbekannt. Während diese sich nun rüsten, um gemeinsam über "Ethik des gerechten Krieges" oder "Die Politik der moralischen Intervention" zu diskutieren, sind jetzt die Referate des Vorjahres im Druck erschienen.

Sie beziehen sich alle auf das vom Wiener Philosophen Konrad Liessmann konzipierte Rahmenthema "Die Furie des Verschwindens. Über das Schicksal des Alten im Zeitalter des Neuen".

Bei der apokalyptischen Metapher des Titels handelt es sich um ein Zitat aus Hegels "Phänomenologie des Geistes" (1807). Es steht dort in einem systematischen Zusammenhang mit dem epochalen Bruch der Französischen Revolution und der militanten Selbstkonstituierung der Moderne. Das Aufgreifen dieser berühmten Wendung stellt also an sich schon eine Art Programm dar, obwohl sich leider kein Referent mit dem Meisterdenker des Deutschen Idealismus beschäftigte, der der Tagung das Stichwort lieferte. Dabei eignen sich dessen geschichtsphilosophische Reflexionen doch ideal zum Einstieg ins Thema.

Mit der Revolution von 1789 beginnt die Moderne politisch und rechtlich insoweit, als hier erstmals der Anspruch, die Gesellschaft rein aus Vernunftprinzipien zu begründen, radikal durchgeführt werden soll. Die traditionellen Lebensverhältnisse hatten den Aufklärungsphilosophen wenig gegolten, und Geschichte war für sie etwas Unvernünftiges und Zufälliges. Doch der universalistische Charakter der von ihnen projektierten, modernen Freiheitsidee entwurzelte und vereinzelte den Menschen, soweit er ihn aufs abstrakte Naturverhältnis reduzierte. Weder die quasi naturwüchsigen "Geschichten" noch die "organischen" Gemeinschaftsbildungen waren mit einem naturrechtlich konstruierten Rechtssubjekt und vertragstheoretisch vorgestellten Gesellschaftsbegriff kompatibel. Bis heute gilt es deshalb als fortschrittliche Aufgabe, das "historische Argument" als Verkleidung von Irrationalismus, Ungleichheit, "Heteronomie" zu exorzieren. Die vorgebliche "Emanzipation" des Individuums führt also stracks zu dessen Entleerung, weil Individuation nicht monomanisch, sondern nur dialektisch denkbar ist. Erst im Umweg über die Referenzgrößen Nation und geschichtliche Herkunft bildet der Mensch seine persönliche Identität. Deshalb klagen die deutschen Entdecker der historischen Idee – Möser, Herder, Hamann – Prinzipien wie Erfahrung, Organizität, Entwicklung, Individualität, Leiblichkeit gegen den Rationalismus ein.

Die geschichtliche Kontinuität wird durch die Revolution zerrissen, die als mythischer Exodus der Moderne aus den Daseinsordnungen der Vergangenheit figuriert. Da die Revolution einer utopischen Zukunft zueilt, läßt sie das Alte hinter sich. Das macht ihre unendliche Negativität aus, hier erscheint sie als "Furie des Verschwindens". In ihrer Zerstörung aber ruft sie restaurative und romantische Kräfte auf den Plan, "die gegen das mit der Revolution heraufkommende Ende der abendländischen Geschichte die alte Welt zurückrufen und ihre Erneuerung betreiben, um so die geschichtliche Substanz des Menschen zu retten" (Joachim Ritter). Die politische Umwälzung wird begleitet von technischen, ökonomischen, sozialen und wissenschaftlichen Revolutionen. Durch ihren krisenhaften Charakter beschleunigen sie den Gesellschaftsprozeß und spitzen das Entfremdungssyndrom als Kernproblem des 20. Jahrhunderts zu. Also treten in der Moderne Vergangenheit und Zukunft, Erfahrung und Erwartung weltgeschichtlich auseinander. In dieser Entzweiung, im "Wanken der Dinge", "entsteht das Bedürfnis der Philosophie" (Hegel).

Diesen ideenhistorischen Kontext im Hinterkopf, wenden wir uns den Beiträgen im einzelnen zu. Die Reihe wird eröffnet durch Konrad Liessmanns erfreulich treffsichere Einführung ins Thema. Sein kurzer Vortrag skizziert eine Phänomenologie des Neuen. Pointiert wird der totale Charakter des Fortschritts herausgearbeitet. Da ist einmal die Radikalisierung des Zeitmoments: "Das Neue hat keine Zeit. Es kann nicht warten. Der Innovationsdruck erzeugt sich selbst." Und dann sein Exklusionscharakter: "Der Furor der Modernisierung kennt keine Bedenkzeiten, kein Innehalten, kein Abwägen, keine Muße." Zu Recht wird seine ubiquitäre, scheinheilige Deklaration als "Sachzwang" durchschaut. Für die Kosten der Fortschrittsideologie gibt es nicht einmal schwarze Kassen. Wo pausenlos Neues produziert wird, steigt aber proportional dazu die Veraltensrate von Dingen, Werten, Erfahrungen: "Die rasenden Innovationen der Moderne hinterlassen so ein Schlachtfeld der nutzlos gewordenen Dinge." Diese, dysfunktional geworden, werden privatisiert oder museal.

Daß diese Innovationsspirale womöglich eine "Fluchtbewegung" sei, ruft ältere Kulturkritiker in Erinnerung, die diese Idee zur metaphysischen Konstruktion ausbauten, etwa Hans Sedlmayr ("Verlust der Mitte", 1948). Erwähnenswert bleibt noch Liessmanns These, daß in der aktuellen Situation schließlich auch das kollektive Gedächtnis seine identitätsbildende und handlungsanleitende Funktion verliert. In Deutschland wird dieser Verlust durch die eifernde Simulation seines Gegenteils im Vergangenheitsbewältigungsdiskurs zementiert, welcher den Rest der deutschen Geschichte vollends unter sich begräbt.

Umfassend und gediegen nehmen sich die kulturhistorischen Ausführungen des bekannten Latinisten Manfred Fuhrmann aus, der in seinem Vortrag "Der Kanon der bürgerlichen Bildung und das Zeitalter der Massen" wesentliche Thesen seines neuen Buches vorstellte (vgl. JF 28/00). Ausgehend von der "Erlebnisgesellschaft" (1992), einer zeitdiagnostischen Soziologie der Lebensstile und kulturellen Muster von Gerhard Schulze, wendet er dessen "Hochkulturschema" auf die alteuropäisch-humanistische Kulturtradition an. Diese begreift er als historisch abgeschlossen. Melancholisch bilanziert Fuhrmann deren Restbestände in der Gegenwart: Sie gleichen "einem restaurierten historischen Gebäude inmitten einer ihm fremden Umgebung", ja selbst dieses existiert nur mehr als bloße Fassade. Des Autors Kritik an der aktuellen Entwicklung wird sich schwer von der Hand weisen lassen: "Während sich die Länder Europas politisch und ökonomisch zusammenschließen, geraten die ihnen gemeinsamen geistigen Fundamente in Vergessenheit."

Ebenso gehaltvoll ist der Aufsatz von des Wiener Sozialgerontologen Leopold Rosenmayr. Er referierte über: "Erinnern bewahrt vor Verschwinden. Die Rolle der Alten in der Verwandlung des Vergangenen." Er bietet statistisches Material, historische Erzählung, soziologische Analyse und ethische Reflexion. Rosenmayr beginnt mit einer so präzisen wie sensiblen Beschreibung der Dorfgemeinschaft eines schwarzafrikanischen Stammes in der Sahelzone. Die Analyse dieser Beobachtungen führt zur Einsicht in die "hohe und prestigeträchtige Stellung der Alten im Stammesleben" der Naturvölker, das"Senioritätsprinzip" archaischer Kulturen. Der historische Epochenwechsel zur Seßhaftigkeit qualifiziert alte Menschen als Garanten des Wissens, praktischer Erfahrung und des sozialen Gedächtnisses. Bleibt dieses Prinzip in den traditionalen Kulturen auch bestehen, wird es doch durch Arbeitsteilung strukturell geschwächt. Bestimmte Faktoren beschleunigen diesen Trend in der europäischen Entwicklung. Die grundlegende "Altersirrelevanz" und andererseits die Idealisierung der Jugend als "Innovationsimpuls" sind freilich jüngere Phänomene. Zu tiefen Antinomien kommt es, wenn das Lebensalter zwar medizinisch verlängert, aber auch seiner Substanz beraubt wird: Alte Menschen werden kulturell und sozial marginalisiert, sind gleichzeitig aber durch ihre materielle Potenz als zahlungskräftige Konsumenten ökonomisch erwünscht.

Sieben weitere Beiträge, sehr unterschiedlich in Thematik, disziplinärer Perspektive und weltanschaulicher Pointierung schließen sich an. ZEIT-Geist-Konformes aus dem Juste-Milieu ewiger Avantgardisten wechselt ab mit Lesenswertem (so die Wiesbadener Pädagogin Marianne Gronemeyer: "Innovationsfuror und Wiederholungszwang"), aber auch Verdrießlichem. So fragt sich der im Kielwasser der politischen Theologie Johann Baptist Metz‘ segelnde Wiener Fundamentaltheologe Johann Reikertorfer "Wie modernitätsverträglich ist das Christentum?" und antwortet, daß der christliche Glaube so aufklärungskompatibel sei, daß er Habermas‘ ethischen Universalismus noch überbieten könne!

Am Ende des Bandes dann ein glanzvoller Text – vielleicht der einzige, der sich der Herausforderung durch das Kongreßthema philosophisch wirklich stellt. Peter Sloterdijk, schillernder und momentan jedenfalls prominentester Repräsentant der deutschen Gegenwartsphilosophie, sprach in Lech über die "Wirklichkeit des Verschwindens. Notiz zur Zeitgeschichte des Nichts".

Er greift, durchaus in positiver Absicht, Oswald Spenglers Geschichtslogik und Untergangsszenarium auf, um jedoch kritisch über ihn hinauszugehen und dessen Projekt bis in die gegenwärtige Situation fortzuschreiben. Dabei knüpft er kritisch an Spenglers Verfallsprognose für die Moderne an. Dieser hatte die Nihilismen seiner Zeit noch traditionell im Horizont seines Kulturmodells als "Dekadenz" interpretiert, aber grundsätzlich an einer weltgeschichtlichen Matrix der "Hochkulturen" festgehalten. Das 20. Jahrhundert realisiert aber gerade eine Transformation dieser fundamentalen Struktur. Wir müssen uns von Naturmetaphern und anthropomorph gedachten Bildern des Geschichtsprozesses verabschieden und "Entwicklung" fortan viel anonymer und systematischer denken. Dieser Paradigmenwechsel kassiert auch das traditionell "Tragische". So konstatiert Sloterdijk einen "neuen Typus von Vergänglichkeit im nihilistischen Umbau des Abendlandes", der die Suche nach dem neuen welthistorischen Subjekt erzwingt. Verschwinden werden überhaupt die individuellen Gestaltformen des Menschlichen und ihre "Sinnräume", die das Alteuropäische ausmachen. Der "Nihilismus in Aktion" läßt ein neues kinetisches Subjekt, das "nachabendländische Hyperindividuum" erahnen, in dem sich Politik, Technik und Ökonomie neuartig verschmelzen. Sein moralischer Kern ist ein "prophetischer Imperialismus", sein Projekt der Weltmarkt, sein Modell die USA, seine Imperative Naturlosigkeit, Futurisierung, Referenzfreiheit, Steigerung und Abenteuer, seine Universalien schließlich: Geld und ein "Komplex legaler leichter Drogen vom Typus Rock-Musik, Aktivporno, Alkohol, Extremsport, Bilderflut". Doch all diese Reflexionen sind vorerst Erkundungen eines noch undurchsichtigen neuen Weltzustandes. So "bleibt uns vorerst nur ein Stammeln über vage Zustände mit unheimlichen Implikationen" in einer gottfernen Welt und "das Abenteuer des Surrealismus".

Konrad Liessmann (Hg.): Die Furie des Verschwindens. Über das Schicksal des Alten im Zeitalter des Neuen. (=Philosophicum Lech Bd. 3), Paul Zsolnay Verlag, Wien 2000 278 Seiten, 36 Mark


 
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