© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/00 20. Oktober 2000

 
Lust am Streit
Deutschland braucht eine souveräne Gesprächskultur
Baal Müller

Es ist ein in das allgemeine Bildungsbewußtsein eingegangener Gemeinplatz der philosophischen Hermeneutik, daß die Lektüre eines Buches ein Gespräch sei: Wir sprechen mit dem Text selbst, der auf unsere Verständnisfragen allmählich antwortet, indem wir weiterlesen. Dieses stille Gespräch mit Büchern, zum Beispiel mit der einen oder anderen Neuerscheinung, die wir dem aktuellen Frankfurter Buchrummel entrissen haben, hat gegenüber dem wirklichen Gespräch mit einem leibhaftigen Gegenüber den Vorteil, daß wir uns hinterher nicht dafür entschuldigen müssen. Bislang gibt es Gott sei Dank noch eine gewisse Privatheit von Sofa, Schreibtisch und Bücherregal, die noch nicht mit Kameras ausgestattet und in Container verfrachtet ist und uns daher vor dem Zugriff der nur "unser Bestes" wollenden "Großen Brüder" sichert.

Beim wirklichen Gespräch, wenn es im öffentlichen Raum geschieht, sieht dies heute leider oft anders aus: Immer wieder, Woche für Woche, rührt sich der Große Bruder in den Medien, wenn wieder ein Vertreter oder eine Vertreterin von Politik und öffentlichem Leben einer bestimmten zeitgeistkritischen, daher als "rechtsintellektuell" verschrienen Zeitung ein Interview gegeben hat. Immer wieder spult er dann die alte Leier von seiner "Betroffenheit" und "Bestürzung" herunter, zieht seine imaginären Linien vom intellektuellen Konservatismus zu Schlägern und Brandstiftern; und immer wieder ereifert er sich dabei über die selbstverständliche Erscheinung des Gesprächs, gerade und auch zwischen Andersdenkenden.

Gewiß geht es jedem so, daß er mit dem einen lieber redet als mit dem anderen und daß er mit dem dritten am liebsten überhaupt nicht reden möchte, sondern ihn geradewegs zur Hölle wünscht; und wer ehrlich anstatt politisch korrekt ist, wird dies auch jederzeit zugeben. Damit man aber seinen Wünschen nicht freien Lauf läßt und den anderen aufgrund seiner eventuell anderen Meinung tatsächlich zur Hölle befördert, ist man in zivilisierten Gesellschaften übereingekommen, miteinander zu sprechen, anstatt sich totzuschlagen oder totzuschweigen.

In unserer medialen Diskurskultur arbeitet man zur Zeit sehr intensiv an der Abschaffung des Gesprächs; das Totschweigen als diskursive Form des Totschlagens tritt an seine Stelle. Die kleinen und großen Diskurswächter, Zeitgeistritter, Feuilletonhelden und "Ich-wasche-meine-Hände-in-Unschuld"-Pilatusse definieren, wer mit wem sprechen und wer von wem interviewt werden, wer wem die Hand geben oder wer neben wem sitzen darf, was mitunter ziemlich infantile Züge annimmt. Ein wenig fühlt man sich an das Kindergartenspiel "Mein rechter, rechter Platz ist leer, ich wünsche mir den XY her" erinnert – mit dem Unterschied allerdings, daß man nicht seinen Mitspieler auf den rechten Platz wünscht, sondern denjenigen dorthin befiehlt, mit dem man angeblich nicht zu spielen wünscht. Eine Spielerei ist das ganze aber doch: das ewige Händewaschen in moralischer Seifenlauge, das Hinzitieren auf rechte Plätze und das alberne "Igitt, neben dem mag ich nicht sitzen". Wie lange werden die Moralhüter eigentlich noch glauben, daß die schweigende und wegen ihres Schweigens zum Diskurs zugelassene Mehrheit noch neben ihnen sitzen möchte?

Für einen Sokrates wäre es, wie die platonischen Dialoge belegen, völlig inakzeptabel und undenkbar, wegen unterschiedlicher Meinungen mit einem anderen Philosophen nicht zu reden; vielmehr pflegen Philosophen im Gegensatz zu Ideologen die banale Tugend, gerade mit dem Andersdenkenden zu sprechen, um ihn entweder zu überzeugen oder von ihm zu lernen.

Homerische Helden und Nibelungenritter konnten einander die Schädel einschlagen und sich dabei doch die höchsten Ehren erweisen. Voltaires bekanntes Wort von seinem Einsatz für den Andersdenkenden wäre hier ebenso zu nennen wie Rosa Luxemburgs berühmtes Diktum von der Freiheit desselben, wenn nicht das letztere dadurch so entwertet wäre, daß der Linksradikalismus dieses Recht auf Freiheit immer nur sich selber zuspricht. Allzu gerne hält man sich auch dann noch für den ewigen Andersdenkenden und habituellen Revolutionär, wenn man längst in Amt und Würden sitzt und über die Pfründen der Macht sowie die Hoheit der Diskurse gebietet.

Um ein Gespräch freilich, das sich dem Anderen zunächst einmal als Anderem öffnet, geht es bei der Diskurspraxis der Empörten und Betroffenen bekanntlich nicht, sondern um das rituelle Abspulen von Bekenntnissen vor zugelassenem Publikum. Das Gespräch wird durch das Gebet ersetzt; das Gebet wird politisiert, profaniert und letztlich zum Selbstzweck: Die sich im Besitze der göttlichen Wahrheit wähnende Sprechergemeinschaft betet sich selber an. Wenn wieder jemand aus dieser Gemeinde ausschert und nicht nur nachspricht, sondern selber spricht und bestimmt, mit wem er sprechen möchte, dann ertönt wieder die Donnerstimme der Vorbeter und das Gezeter der Respondierenden.

Interessant ist dabei, wen die gesprächspartnerzuweisenden Wer-mit-wem-Wächter ihres Rates für bedürftig erachten. Warum der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, keinen Rat braucht, wie kürzlich ein Leitartikel in der Süddeutschen Zeitung lautete, muß der politisch korrekten Leserschaft eigentlich nicht erst vermittelt werden – auch wenn der Autor im selben Artikel sehr viele solche ungebetenen Ratschläge austeilt; daß seine Stellvertreterin Charlotte Knobloch solche Ratschläge noch nötig habe, scheinen die Vertreter der Diskursmoral indessen anzunehmen. Auf peinliche und besserwisserische Weise wird die Vizepräsidentin des Zentralrats der Juden für ein JF-Interview von Personen kritisiert, die ihr angebliches moralisches Monopol im Umgang mit Juden und dem Judentum behaupten wollen. Es wird so getan, als ob nur Linke und Linksliberale mit Juden sprechen dürfen und als ob Juden und ihre Interessenvertreter per se auch eine linke Einstellung haben müßten, wobei selbstverstäntlich der große Beitrag, den konservative und aus heutiger Sicht "rechte" jüdische Denker wie Edmund Husserl, Max Scheler, Georg Simmel, Karl Wolfskehl, Ernst Kantorowicz oder Friedrich Gundolf der deutschen Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts vermittelt haben, völlig ausgeblendet wird.

Konservative, undogmatische und freiheitliche Nonkonformisten sollten sich das Gespräch mit jüdischen Deutschen nicht verbieten und es nur denen überlassen, die seine Freiheit und Offenheit durch eine schleichende mediale Blockwartisierung letztlich unmöglich machen.


 
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