© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/00 20. Oktober 2000


"Manchmal tun mir die jungen Deutschen leid"
Elvira Noa über das Fortbestehen nationalsozialistischer Dogmen in der bundesdeutschen "Entsühnung" und die Notwendigkeit eines neuen Nationalbewußtseins
Moritz Schwarz

Die jüngsten Anschläge auf Synagogen in Deutschland haben ein großes Erschrecken hervorgerufen. Tatsächlich aber reihen sie sich nur in eine lange Kette von Vorfällen.Wie empfinden Sie dies?

Noa: Ich war sehr erschrocken, daß jetzt auch auf jüdisches Leben rückhaltlos Anschläge verübt werden. Ebenso, wie ich immer entsetzt war, wenn Asylbewerberheime in Brand gesteckt, Obdachlose zu Tode getrampelt, Ausländer geschlagen und ermordet wurden. Wir kennen terroristische Anschläge auf jüdische Einrichtungen aus politischen Motiven, Racheakte vor dem Hintergrund der Kämpfe zwischen Israelis und Palästinensern. Daß jedoch durch rechtsextremistische, antisemitische Gewalttäter das Leben der Juden in Deutschland wieder bedroht wird, ist eine neue Dimension, die Assoziationen an 1938 aufwirft und sehr bedrückend ist. Man beobachtet einen schleichenden Gewöhnungseffekt in der Bevölkerung hinsichtlich rechtsradikaler Aktivitäten. Und das ist besonders gefährlich. Wer geht schon auf die Straße, wenn ein Obdachloser von Skinheads totgetrampelt wird? Wenn es um Juden geht, gibt es politische Solidaritätsbezeugungen, dankenswerte Kundgebungen mit ein paar Hunderten von aufrechten Menschen, vergleichsweise wenigen, wenn man die Anzahl der Demonstranten gegen die Kampfhunverordnung betracht. Und wie lange noch? Was, wenn die Erinnerung an die Shoah in einiger Zeit noch mehr verblaßt ist als heute? Längst weiß man, daß nicht regional agierende rechte Jugendliche die Synagogen in Lübeck und Erfurt in Brand gesteckt haben, sondern daß gewisse Kreise national und international daran arbeiten, "unliebsame" Minderheiten aus unserer Gesellschaft zu verjagen.

Was meinen Sie mit "gewissen Kreisen"?

Noa: Der Verfassungsschutz kennt eine Fülle von rechtsradikalen Parteien, Verbindungen und deren Terror ausübenden Verbindungsleuten. Aufklärung und Verfolgung der Straftaten gelingt jedoch oftmals nicht. Im Internet und auf Musik-CDs etc. wird brutales rechtsradikales Gedankengut verbreitet. Wer sind die Akteure, die Hintermänner – wird man ihrer habhaft? Kaum. Die Jugendlichen, frustriert und zum Losschlagen bereit, werden von geistiger Substanz aus der Mitte der Gesellschaft gespeist und richten folglich ihre Wut gegen die angeblichen "Verursacher" ihrer eigenen Misere.

Was meinen Sie mit "aus der Mitte der Gesellschaft" genau?

Noa: Bis vor zehn Jahren wurden die Juden in Deutschland kaum wahrgenommen, weil kaum welche hier lebten. Das ist durch die Zuwanderung nunmehr anders geworden. Seltsamerweise, historisch belegbar, hängt aber der Antisemitismus in einem Land nicht davon ab, ob oder wieviel Juden dort leben. In Deutschland spricht man statistisch gesehen von etwa fünfzehn bis zwanzig Prozent antisemitischem Potential. Der Unterschied zu früher jedoch liegt darin, daß dieses Potential nicht mehr nur latent vorhanden ist, sondern teilweise offen und brutal zutagetritt. Als Jude erlebt man heute, zum Beispiel auf Behörden, viele der überkommenen Vorurteile. Wir sagen den jüdischen Kindern, die aus Rußland hierherkommen, daß sie sich als Juden hier frei bewegen können, was sie dort nicht konnten. Wir sagen ihnen, seid stolz auf das, was Ihr seid, versteckt das nicht – weil das jeder Mensch tun dürfen sollte. In den Schulen erleben sie dann, daß sie als "Juden" beschimpft werden. Nun werden sicherlich auch Türken als "Türken" und eventuell Dicke als "Dicke" beschimpft, nur als Jude erlebt man das in diesem Land eben viel stärker. Wenn Kinder im Streit von anderen Kindern in die Gaskammern geschickt werden, dann ist das auch sehr hart und treibt einem die Tränen in die Augen. Die Kinder kommen zu uns und fragen: "Warum sagt Ihr, wir sollen sagen, daß wir Juden sind? – Wir sollten es lieber nicht sagen!"

Was halten Sie von Paul Spiegels erster Reaktion nach den jüngsten Anschlägen, der das Verbleiben der Juden in Deutschland zunächst in Frage gestellt hat, auch wenn er das später wieder zurückgenommen hat?

Noa: Ich verstehe das sehr gut. Ich habe das mein Leben lang ebenfalls immer wieder in Frage gestellt. Ich habe das auch in Frage gestellt, als ich anfing, hier in der Gemeinde zu arbeiten. Ich kenne aus der Jugend den Kampf meines Vaters, hier in Deutschland zu leben und als Jurist in den frühen fünfziger und sechziger Jahren noch mit all den Noch-Nazis in der Justiz konfrontiert gewesen zu sein. So bin ich es von zu Hause gewöhnt, für ein demokratisches und gutes Deutschland zu kämpfen, und ich will auch hier bleiben. Und auch Herr Spiegel will das. Nur ist es symptomatisch, daß die erste Reaktion nach einem solchen Anschlag unter vielen Juden der Gedanke an ein Verlassen des Landes ist, auch wenn man sich dann wieder beruhigt, bleibt und auf die demokratischen und rechtsstaatlichen Kräfte vertraut.

Ignatz Bubis hat sich auf den Standpunkt gestellt, die Juden sind Bestandteil des deutschen Volkes, und ist damit, zumindest nach seinem persönlichen Empfinden, gescheitert. Wenn den Juden heute der Gedanke kommt, das Land zu verlassen, dann scheint doch das nationalsozialistische Dogma "Juden sind anders" gar von den Juden selbst akzeptiert zu werden.

Noa: Das ist sehr vielschichtig und schwierig zu erklären. Juden sind Menschen wie alle anderen auch, das ist erst einmal die Grundvoraussetzung. Juden, die in Deutschland aufgewachsen sind, benehmen sich wie Deutsche, Juden, die in Frankreich aufgewachsen sind, wie Franzosen u.s.w. Doch die Juden sind in zweierlei Beziehung auch anders: einmal dann, wenn sie ihre jüdische Tradition bewußt leben und sich somit in ihren sie prägenden Lebensgewohnheiten von der sie umgebenden Bevölkerung unterscheiden. Diese Andersartigkeit ist eine für die Gesellschaft positiv bereichernde. Ihre Kriminalisierung und Vernichtung ist das nationalsozialistische Dogma und Verbrechen. Zum zweiten haben die Juden durch die sich durch die Jahrhunderte ziehenden Verfolgungen ein anderes Geschichtsbewußtsein, als nichtjüdische Deutsche es haben. Bis zu den Kreuzzügen konnten sie noch einigermaßen unbehelligt leben, seitdem ist es ein gebrochenes Bewußtsein. Die Juden waren immer abhängig von irgendwelchen Schutzherren, die sie einmal schützten, aber, nach Laune oder wirtschaftlichen Interessen, auch wieder vertrieben. Schließlich, seit dem 18. und 19. Jahrhundert, versuchten einige in die Gesellschaft einzutreten, sich zu assimilieren, zum Beispiel, indem sie sich taufen ließen. Letztlich scheiterte dieser Prozeß am Rassenhaß der Nationalsozialisten, die den Juden klarmachten: Ihr gehört nicht dazu. Und das steckt so tief in einem drin, auch wenn man, wie ich, nach dem Krieg geboren ist, so daß man nie sagen kann: Ja, ich bin Deutscher wie alle anderen auch.

Also hat die nationalsozialistische Propaganda doch gesiegt.

Noa: In diesem Punkt, ja – ich sage von mir, ich bin Deutsche, ich habe einen deutschen Paß und bin hier aufgewachsen, aber das ist für mich nur eine Randerscheinung. Die Juden in Amerika sagen ohne weiteres, sie sind Amerikaner und dann erst Juden. Dort ist das möglich. Hier in Deutschland wollte Bubis das auch so. Ich kann nicht dahinterstehen, denn man spürt doch, daß es nicht stimmig ist.

Aber Sie wünschten es?

Noa: Ich kann nur für mich sprechen. Ich persönlich will es nicht, denn ich kann es nicht. Ich kann diese Frage gar nicht mehr stellen, weil ich es von Kindheit an anders gewohnt bin. Als Studentin pochte ich jahrelang darauf, keine Deutsche sein zu wollen. Na ja, in der Jugend ist man eben sehr radikal mit seinen Gefühlen. Meine Eltern haben mich dann getröstet und gesagt, ich sei ja auch keine.

Und so ging die Saat Hitlers doch noch auf.

Noa: Im umgedrehten Sinne, ja. Deutschsein bedeutete jahrzehntelang nach dem Krieg etwas Negatives, es bedeutet sozusagen die Vernichtung des Jüdischseins. Also konnten Juden ja nicht auch Deutsche sein wollen. Aber das war bei vielen Deutschen, die nicht jüdisch waren, auch der Fall. Weil sie sich schämten für die Vergangenheit. Das ist bis heute Deutschlands großes Problem, das gebrochene Bewußtsein.

Das eigentliche Problem ist also die nach wie vor völlig ungeklärte Frage, handelt es sich bei Juden und Deutschen nun um eine Einheit oder eine Zweiheit? Haben Sie den Eindruck, daß irgendwer außer Ignatz Bubis diese Frage angepackt hat?

Noa: Nein.

Woran liegt das?

Noa: Es ist offensichtlich noch nicht möglich, weil von deutscher Seite diese Vorbehalte kommen. Von jüdischer Seite besteht diese unbegründete Angst, sie würden, wie Sie sagen, die "Saat Hitlers" aufgehen lassen, wenn sie die Andersartigkeit von Juden akzeptierten. Es ist eine Zweiheit, es soll auch eine Zweiheit bleiben. Die Zweiheit ist eigentlich eine wunderschöne Sache. So wie heute die jungen Türken der dritten Generation Deutsche und Türken zugleich sind.

Diese Lehre von der blockartigen Einheit als einzig wahre Volksidentität der Deutschen, die Sie mit Ihrer Argumentation unterschwellig bestätigen, ist ebenfalls überlebende Propaganda der Nationalsozialisten. Tatsächlich aber hat die Vielfalt in der nationalen Einheit, anders als etwa in den Zentralstaaten England oder Frankreich, in Deutschland eine große Tradition. So bedeutend, daß Deutschland dadurch zum ersten föderalen Nationalstaat in der Geschichte Europas wurde. Zusätzlich zu dieser Jahrhunderte alten föderalistischen Tradition kommen die für die deutsche Geschichte wichtigen Identitätsmuster "Habsburg" und "Preußen", die beide explizit durch die Integration von Fremden funktionieren. Würden wir mehr nationales Selbstbewußtsein aus unserer Geschichte entwickeln, könnte man auch bei uns wie selbstverständlich sagen, ich bin zwar in erster Linie Deutscher, aber ich bin auch ...

Noa: Ich würde nicht sagen "erstens" und "zweitens", sondern "ein Eins und Eins".

Aber es ist doch erstaunlich, daß mit so einem geringen materiellen Schaden, wie bei den jüngsten Synagogen-Anschlägen verursacht wurde, von den Untätern eine solche gesellschaftliche Wirkung erzielt werden kann. Dies weist doch auf die völlige Fragilität des Verhältnisses von deutschen Juden und nichtjüdischen Deutschen hin. Mit der Definition, die Sie jetzt dargelegt haben, konservieren Sie doch gerade diesen instabilen Zustand.

Noa: Sicher, das Verhältnis bleibt indifferent, aber vielleicht haben Sie mich falsch verstanden? Ich sehe es als eine Zukunftsvision – eine Möglichkeit –, in Deutschland einmal gleichzeitig Deutscher und Jude sein zu können, ohne daß Hinterfragungen stattfinden müssen. Das, was ich Ihnen beschrieben habe, ist eben der Wunsch, der noch keine Realität ist. Und er ist es nicht, weil fünfzig Jahre nach dem Holocaust der Boden noch nicht geebnet ist, um eine solche Normalität herzustellen. Daß so ein kleiner Schaden eine so große Welle von Entsetzen auslöst, liegt offensichtlich daran, daß die Angst vor einer Wiederholung des Holocaust von jüdischer und nichtjüdischer Seite immer noch tief verwurzelt ist.

Wenn man versucht zu normalisieren, muß man ein Stück weit vergessen. Im ständigen Bewußtsein einer so gewaltigen Katastrophe zu leben, ermöglicht eben kein normales Verhalten. Strebt man nun dieses Alltags-Vergessen unter Wahrung des Gedenk-Erinnerns an, so wird man unweigerlich mit Vokabeln wie "Schlußstrich" oder "Verdrängen" konfrontiert, die in Deutschland mittlerweile hoch-beleidigenden Charakter haben. Wie soll man sich nun verhalten?

Noa: Auf keinen Fall vergessen! Es ist gefährlich, das auszusprechen. Vielleicht spreche ich jetzt zu sehr aus meinem persönlichen Erleben, aber bis vor zehn oder fünfzehn Jahren habe ich die Menschen, die jetzt leben, oft als diejenigen gesehen, die damals meine Familie getötet haben. Heute geht es mir noch so, wenn ich sehr alte Menschen treffe. Und es kann ja auch stimmen. Mit "Vergessen" meine ich, daß ich die Deutschen, die jünger sind, nicht mehr mit den ausgeübten Verbrechen ihrer Vorfahren in Verbindung bringe. Aber den Menschen zu sagen, sie sollen vergessen, das wäre ein großer Fehler. Sie sind nicht schuld, aber sie alle sollen Verantwortung tragen. Nur würde ich Ihnen und anderen ebenso sagen, wenn Ihr Euch jetzt so verhalten benehmt, weil ich eine Jüdin bin, dann fühle ich mich dabei auch nicht wohl. Im täglichen Umgang muß man eine menschliche Selbstverständlichkeit erreichen. Und das geht nur, indem man sich mit dem "Anderen" beschäftigt. Mit dem "Anderssein", was die Juden in ihrem Leben haben. Wenn man das gelernt hat, geht man auch gelöster mit den Menschen um und akzeptiert und respektiert sie auch.

Sie empfehlen, das Augenmerk noch mehr auf das "Anderssein" der jüdischen Deutschen zu richten. Also eine Intensivierung des bisherigen "Rezeptes". Befürchten Sie nicht eine weitere Verschärfung der Situation?

Noa: Ich befürchte tatsächlich, daß sich die Situation verschärfen wird. Allerdings weil ich fürchte, daß diese Beispiele Schule machen. Die Radikalisierung der Jugend ist sehr, sehr gefährlich und wird immer stärker. Das hat mit vielem, vor allem aber mit dem Werteverlust in der Gesellschaft zu tun.

Wodurch sehen Sie diesen Werteverlust bewirkt?

Noa: Die Katastrophe des Nationalsozialismus hat bewirkt, daß man an nichts mehr glauben konnte. Die Religion war schon zuvor ins Schwanken geraten und auch die kommunistischen Werte, die eine Zeitlang in Osteuropa noch großen Halt boten, sind inzwischen überall unglaubwürdig geworden. Die Werte, die beiden Systemen nach ihrem Zusammenbruch folgten, waren lediglich materialistische und konsumorientierte Werte, und die halten nicht lange und füllen einen Menschen nicht aus. Und das hat in einem rasanten Tempo zugenommen.

Erst die Katastrophe des Nationalsozialismus und danach nur noch der Materialismus: Dann wäre die Antwort darauf doch, endlich ein positives Nationalgefühl aufzubauen?

Noa: Ja. Das denke ich auch. Auf jeden Fall. Nur weiß ich nicht, wie schnell in Deutschland so etwas wieder entstehen könnte. Das ist sehr schwierig, und man versucht sich in verschiedenen Parteien auf verschiedenen Wegen heranzutasten. Wie kann man in Deutschland ein positives Nationalgefühl aufbauen, ohne sich dauernd zu schämen oder umgekehrt, ohne einen "typisch deutschen" Nationalstolz, der dann wieder gefährlich wird, zu bekommen? Die Jugend heute versucht das langsam wieder, aber in meiner Jugendzeit, ja bis vor wenigen Jahren, war das völlig unmöglich. Als ich vor fünfzehn Jahren als Musiklehrerin gearbeitet habe, da wollte ich mit den Kindern deutsche Volkslieder singen. Mit Kindern muß man singen, und es gibt so viele schöne deutsche Volkslieder, die nicht von den Nazis besetzt und mißbraucht worden waren. Doch die Kinder wollten das nicht, sie fragten: "Deutsch?" – und wollten nur englische oder französische Lieder singen. Solche Berührungsängste haben diese jungen Leute mit diesen deutschen Traditionen gehabt. Aber woher wollen Sie ohne Traditionen ein Nationalgefühl, das positiv besetzt ist, nehmen?

Wenn Sie in Deutschland ein positives Nationalgefühl aufbauen wollen, kommt ganz schnell das Argument: "Nein, nicht! Mit Rücksicht auf die Juden". Die Katze beißt sich in den Schwanz. Und die Aussöhnung wird so erneut verhindert.

Noa: So ist es. Aussöhnung gibt es doch nicht, nur ein positives Miteinander. Aber ich verstehe die Deutschen gut. Sie haben Angst, daß die Juden auch wieder Angst bekommen, denn man weiß ja nicht, wie das neue Nationalgefühl aussieht.

Also verfallen wieder alle in Erstarrung und fallen hilflos in den Bann, in dem die von den Nationalsozialisten verbreiteten Gedanken weiter lähmend Gültigkeit haben.

Noa: Das ist ein Dilemma. Das ist unser Erbe. Auf beiden Seiten. Junge Deutsche und junge Juden sind da im gleichen Dilemma zusammen gefangen. Nur können junge Juden im Zweifel nach Israel auswandern, das können die jungen Deutschen nicht. Manchmal tun mir die jungen Deutschen richtig leid, wenn ich ihre Kämpfe sehe. Denn ihnen wurde ihre Grundlage einer gesunden Identität zerstört.

Es ist zu beobachten, daß alle Parteien versuchen, sich auf die Seite der Juden zu schlagen, um einen politischen Vorteil zu gewinnen. Das böse Wort vom "Vorzeigejuden" ist Realität. Versucht nicht mancher "Täter", sich ein warmes Plätzchen bei den "Opfern" zu suchen?

Noa: Ja, mancher schon. Ich habe im Laufe der Zeit gelernt zu unterscheiden, wer sich ehrlich um Verständigung bemüht und wer sich bei den Juden "entsühnen", sich seiner Schuldgefühle entledigen möchte. Dabei müßten die nach dem Krieg Geborenen keine Schuldgefühle haben, denn sie sind keine Täter, es sei denn, sie relativieren oder leugnen gar das Verbrechen der Shoah. Das Relativieren der Shoah geschieht bereits bei dem häufig hervorgebrachten Argument, daß die Juden, Israelis, mit den Palästinensern genauso umgehen, wie die Deutschen mit den Juden umgegangen sind. Ich habe diese Diskussion besonders bei den sogenannten "Linken" während des Golfkrieges miterlebt, was dann zur Spaltung der grünen Partei geführt hat. Aber es ist kein "Privileg" der Linken, sich auf diese Weise entsühnen zu wollen. Für zu viele gibt es nur die Rücksichtnahme auf die toten Juden, statt sich auch mit den lebenden Juden auseinanderzusetzen. Allzu viele suchen nur ihren Hof- und Quotenjuden.

Was halten Sie von der Argumentation im Parteienstreit, konservative Positionen seien die Stichworte für diese Untaten?

Noa: Konservativ heißt auf keinen Fall antisemitisch. Ich würde mich selbst auch eher als konservativ verstehen. Diese Anschläge werden gespeist von verschiedenen politischen Äußerungen, wie etwa, man müsse die Zuflut der Ausländer – man sprach sogar über die Zuwanderung der Juden – begrenzen. Konservativ bedeutet "erhaltend", "Werte erhaltend". Eigentlich sollten nur positive Werte erhalten werden. "Nur deutsch" oder "sortierte Ausländer" sind negative Werte, sie bedeuten Ausgrenzung und potentielle Vernichtung von Andersartigkeit und Minderheiten in der Gesellschaft. Sobald das Wort "weniger Ausländer" in den Mund genommen wird, ist man ein geistiger Mittäter.

Jeder, der für Ausländerbegrenzung eintritt, ist also ein geistiger Mittäter an antisemitischer Gewalt?

Noa: Ja. Ein geistiger Mittäter an antisemitischer und ausländerfeindlicher Gewalt.

Ist Innenminister Schily, der für Begrenzung eintritt, in Ihren Augen ein antisemitischer Mittäter?

Noa: Ja. Er war zu lange "auf dem rechten Auge blind", er hat zu oft die "Das Boot ist voll"-Theorie öffentlich vertreten, so daß jeder primitive Schläger, jeder haßerfüllte Skin, jeder emotionsgeladene Stammtisch-Bruder sich in seiner "Drauf-los"- und "Die Ausländer oder die Juden sind an allem schuld"-Haltung politisch gerechtfertigt fühlen mag.

Was halten Sie von der Shell-Studie 2000: Die große Mehrheit der deutschen Jugendlichen sind für Zuwanderungsstopp. Alles geistige Mittäter?

Noa: Ich will das nicht pauschalisieren, das wäre gefährlich. Aber ich finde diese Studien-Ergebnisse sehr bedenklich.

 

Elvira Noa, geboren 1953 in Böblingen, Lehrerin für Musik und Latein, ist Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Bremen und Leiterin des Referates für Ausländerintegration des Bremer Senates.


 
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