© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/00 20. Oktober 2000

 
Sowjetischer Reaktor mit US-Technik
Temelin: Das tschechische Atomkraftwerk wurde vergangene Woche in Betrieb genommen
Ekkehard Schultz

Das umstrittene tschechische Atomkraftwerk Temelin in Südböhmen hat am vergangenen Montag seinen Betrieb aufgenommen. Frühmorgens um 6.19 Uhr wurde mit der ersten Kernspaltungsreaktion im ersten Reaktorblock vorerst ein Schlußpunkt unter eine jahrelange Auseinandersetzung im In- und Ausland gesetzt. Kurz nach 21 Uhr durfte der prominenteste Befürworter des Projekts, der tschechische Premierminister Milos Zeman, publikumswirksam die Inbetriebnahme verkünden. Ungeachtet des starken Protests, der in den letzten Jahren insbesondere von den österreichischen Nachbarn ausging, haben sich damit die obersten Entscheidungsträger Tschechiens über alle Bedenken hinweggesetzt. Die nahezu einheitliche Forderung der österreichischen Regierung und Opposition, Temelin zumindest ein weiteres halbes Jahr auf seine Sicherheit und Umweltverträglichkeit prüfen zu lassen, blieb damit unbeachtet.

Die Anlagen des AKW Temelin befinden sich nur etwa fünf Kilometer südöstlich vom Stadtzentrum von Moldautein und etwas mehr als 20 Kilometer nördlich von Budweis. Lediglich etwas mehr als 100 Kilometer trennen Temelin von Prag und der oberösterreichischen Hauptstadt Linz. Auch Oberbayern liegt in unmittelbarer Nachbarschaft. Trotzdem verfügt Temelin zumindest in Tschechien über eine starke Lobby: Der Aufwand, den die Betreiber und Befürworter unternehmen, um die Bedenken ihrer Gegner zu entkräften und die eigene Positionen durchzusetzen, ist beachtlich. So verfügen sie beispielsweise seit vergangener Woche über eine eigene Internet-Adresse ( www.temelin-besuch.cz ), die sich speziell an die österreichische Bevölkerung wendet. Die im fehlerfreien Deutsch abgefaßten Texte rechtfertigen den Start u.a. auf der Basis zahlreicher Umwelt- und Sicherheitsgutachten. Ferner zeugen zahlreiche Äußerungen von höchsten politischen Repräsentanten, so beispielsweise von Außenminister Jan Kavan oder von Parlamentspräsident Vaclav Klaus, für eine gewaltige Unterstützerfront.

In erster Linie wird die Inbetriebnahme ökonomisch begründet. So habe die Lieferung von benötigten Bauelementen durch die tschechische Industrie Tausende Arbeitsplätze gesichert, die Kompetenz der tschechischen Maschinenbauindustrie im Bereich der Nukleartechnologie unterstrichen und das internationale Prestige des Landes gefördert. Außerdem würde das AKW den wachsenden Strombedarf der tschechischen Industrie decken und das Land unabhängiger von möglichen Importen machen. Natürlich spielen auch die eigenen Interessen der Betreiber eine wichtige Rolle: Der Direktor der CEZ, Jaroslav Mil, offerierte, daß aufgrund des für tschechische Verhältnisse außerordentlichen Kapitaleinsatzes von über 100 Milliarden Kronen (umgerechnet ca. 5,6 Milliarden Mark) der Konkurs des Stromkonzerns kaum noch abzuwenden wäre. Zudem soll die CEZ über das Kraftwerksprojekt für ausländische Kaufinteressenten attraktiv gemacht werden. Immerhin befinden sich heute noch 60 Prozent des Stammkapitals der CEZ in staatlicher Hand.

Der Bau des AKW Temelin schien lange Zeit unter keinem guten Stern zu stehen: 1983 von der kommunistischen Regierung in Prag beschlossen, begann die damalige Tschechoslowakei ausgerechnet im Jahr der Tschernobyl-Katastrophe, nämlich 1986, mit dem Bau des Reaktors sowjetischer Bauart. Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Systems wurde auch die Zukunft des AKW-Projektes grundsätzlich in Frage gestellt, zumal sich bald herausstellte, daß die ursprünglichen Prognosen für den zukünftigen Energiebedarf des Landes weitaus übertrieben waren. Doch erst 1993, im Jahr der Auflösung der Tschechoslowakei, fühlte sich die CEZ aufgrund des wachsenden internationalen Drucks gezwungen, Konzessionen einzugehen: Die Anzahl der Reaktorblöcke wurde von vier auf zwei halbiert. Ferner schrieb die CEZ das mittlerweise überholte technische Leitsystem der Anlage erneut aus. Nachdem mehrere europäische Firmen den Auftrag ablehnten, wurde von der US-amerikanischen Firma "Westinghouse" die Anpassung an westliche Maßstäbe übernommen. Trotzdem ist dieser einzigartige Schritt, einen sowjetischen Reaktortyp mit US-Technik nachzurüsten, nach wie vor hinsichtlich seiner Grenzen und Möglichkeiten umstritten.

Geschickt hat es die Lobby der AKW-Befürworter in Prag geschafft, die Entscheidung über Temelin zu einer nationalen Gewissensfrage zu stilisieren. Dabei konnte sie sich darauf stützen, daß die Front von ausländischen Kritikern in ihren Argumenten wenig Einigkeit zeigte. So wurden nicht nur Sicherheitsbedenken und Umweltsorgen gegen das AKW geäußert. Auch eine Diskussion um tschechische Stromexporte zu Dumpingpreisen bestimmte zunehmend die Debatte, so daß es den Befürwortern relativ leicht fiel, die Kritiker als selbstgefällig darzustellen. Es gehörte daher schon eine Menge Mut dazu, in den letzten Tagen innerhalb Tschechiens offen Bedenken gegen die Inbetriebnahme zu äußern, wie beispielweise die Organisation "Südböhmische Mütter". Sie befürchtet eine erhöhte Strahlenbelastung der Umgebung und damit wachsende Gefahren für Neugeborene und Kleinkinder. Zumindest rhetorische Unterstützung erhält sie von Tschechiens Präsidenten Vaclav Havel. Gegenüber dem staatlichen tschechischen Rundfunk bezeichnete es Havel als den "größten Fehler" während seiner Präsidentschaft, "nicht sehr streng gegen den Bau von Temelin aufgetreten" zu sein. Gegenüber den österreichischen Kritikern zeigte die tschechische Seite wenig Sensibilität. So weigerte sich Premierminister Zeman konsequent, mit Ministern des Nachbarlandes auch nur über dieses Thema zu debattieren. Nachdem zahlreiche Versuche, einen Dialog zu erreichen, nahezu keine Reaktion auslösten und friedliche Demonstrationen von AKW-Gegnern im Grenzgebiet zu Tschechien ohne Echo blieben, drohte der Konflikt in den letzten Tagen zu eskallieren. Hochrangige Regierungsmitglieder, darunter auch Bundeskanzler Schüssel, protestierten energisch gegen das ignorante Verhalten des EU-Beitrittskandidaten. Mit deren offensichtlicher Unterstützung versperrten Temelinkritiker wochenlang die Grenzübergänge nach Südböhmen. Zunächst nur auf Oberösterreich begrenzt, wurden seit zwei Wochen die Proteste auch nach Niederösterreich ausgeweitet. Dadurch fühlte sich Tschechien wiederum genötigt, mit einem Ultimatum an die Wiener Regierung zu drohen. Dem österreichischen Botschafter in Prag wurde mitgeteilt, daß man bei einer Weigerung, gegen die Grenzblockaden vorzugehen, die EU anrufen werde, da die Blockaden den freien Grenzverkehr verhinderten und somit gegen den tschechischen EU-Assoziationsvertrag verstießen.

Die Reaktionen aus Wien ließ nicht lange auf sich warten: Bundeskanzler Schüssel verwahrte sich dagegen, die aus seiner Sicht "berechtigten Kundgebungen" mit Polizeigewalt aufzulösen, wobei ihn wiederum nahezu geschlossen Regierung und Opposition unterstützten. Obwohl sich mit dem Besuch des tschechischen Innenministers in Wien derzeit eine leichte Entspannung der Situation abzeichnet, wird Temelin wohl noch auf längere Zeit einen ernsthaften Streitpunkt zwischen beiden Staaten darstellen.


 
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