© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/00 20. Oktober 2000

 
Der Institutionen-Denker
Arnold Gehlen von links und rechts wiederentdeckt
Günter Zehm

Arnold Gehlen redivivus. Gleich zwei Monographien über den 1976 verstorbenen Anthropologen sind jetzt zur Buchmesse erschienen: Karlheinz Weißmanns "Arnold Gehlen, Vordenker eines neuen Realismus" als Band zwei der neuen Reihe "Perspektiven" (bei der Edition Antaios, Bad Vilbel) und Christian Thies’ "Gehlen zur Einführung" aus der Reihe "Einsichten" des Hamburger Junius-Verlags.

Man tut den beiden Reihen keinen Tort an, wenn man die "Perspektiven" als ein konservatives Projekt charakterisiert, die "Einsichten" hingegen eher links einordnet. Um so bemerkenswerter die vielen Übereinstimmungen in den Büchern, der hier wie dort bezeugte Respekt vor Gehlen, die hier wie dort geäußerte Überzeugung, daß die von ihm entwickelte Anthropologie eine Herausforderung und eine wichtige Aufgabe für die Gegenwart ist.

Der aus Leipzig stammende und bis 1945 an der dortigen Universität lehrende Gehlen (Jahrgang 1904) war in den fünfziger und sechziger Jahren der große Widerpart der sich um Horkheiner und Adorno formierenden "Frankfurter Schule". Gehlen vertrat die "Leipziger Schule", die sich von Wilhelm Wundt und Felix Krueger herleitete und zu der neben Gehlen selbst unter anderen Hans Freyer und Helmut Schelsky gehörten.

Die Diskussionen zwischen der Frankfurter und der Leipziger Schule, speziell zwischen Adorno und Gehlen (die sich übrigens privat mochten und stets mit höchster Dezenz gegeneinander fochten), prägten das geistige Klima jener Jahre und verliehen ihnen eine Farbigkeit und Tiefenschärfe, die man "nach 68", nach dem (Schein)-Sieg der Frankfurter Schule, vergeblich suchte. Letztlich waren Adorno wie Gehlen Verlierer.

Adorno starb, von seinen eigenen Schülern bespuckt und verhöhnt, 1968 mit gebrochenem Herzen in Sils-Maria. Gehlen, der "Institutionen-Denker", mußte mit ansehen, wie die "Kulturrevolutionäre" eine historisch gewachsene Institution nach der anderen unterhöhlten, zersprengten, schleiften, so daß am Ende nur noch der geistige Pöbel und das Kapital regierten. Seine letzten Jahre waren pessimistisch umdunkelt und ohne Hoffnung.

Gehlen, der "Institutionen-Denker". In seiner Auffassung war der Mensch ein "Mängelwesen", dessen natürliche Instinktausstattung durch einen Zufall der Evolution reduziert, dessen natürliche Antriebe infolgedessen weitgehend "freigesetzt" worden waren, so daß er, um überleben zu können, einer Kompensation bedurfte, die ihn "entlastete". Und diese notwendige Entlastungsinstanz sah Gehlen in den sozialen Institutionen. Sie lieferten dem Menschen die "Führungssysteme", die er brauchte, um seine inneren Wesenskräfte sowohl entfalten als auch disziplinieren zu können, die "Kultur zur Natur".

In seinem monumentalen, 1940 zum ersten Mal erschienenen und von Auflage zu Auflage immer weiter fortgeschriebenen Hauptwerk "Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt" und in seinem Spätwerk von 1969, "Moral und Hypermoral", entfaltete Gehlen mit größter Umsicht die schwierige Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit, Entfremdung und Beisichsein. "Sich von den Instititutionen konsumieren lassen", schrieb er, "gibt einen Weg zur Würde für jedermann frei ... So werden wenigstens die Menschen von ihren eigenen Schöpfungen verbrannt und nicht von der rohen Natur wie die Tiere".

Darauf angesprochen, welche Personen sich nach seiner Ansicht denn von Institutionen verbrennen lassen, antwortete Gehlen: "Politiker, Ärzte und Hausfrauen, beispielsweise". Sein Institutionsbegriff war weitgespannt und zugleich im engsten Sinne verbindlich. Des Menschen moralisches Karat zeigt sich einzig im Dienst an der Institution. Den höchsten Sinn seiner Existenz gewinnt er, wenn es ihm gelingt, eine institutionelle Vorgabe "auszukristallisieren", sie für die Mitmenschen faktisch unveränderbar gültig zu machen.

Beim späten, hoffnungsarmen Gehlen allerdings traten kulturelle Kristallisationen und institutioneller Zwang auseinander. Der technisch-ökonomische Bereich überlagert sämtliche übrigen Institutionen und verurteilt insbesondere Kunst und Literatur zur ewigen Wiederholung des Immergleichen und längst Auskristallisierten, zu Geschwätz und bloßer Masche. Die Menschheit tritt in die "Posthistoire", wo im Grunde nichts Neues passiert.

Man muß konstatieren, daß diese deprimierende Schlußpirouette des Gehlenschen Werkes einige Aversionen gegen das System im Ganzen wachruft. Es erscheint als allzu deterministisch, läßt zu wenig Raum für manchmal durchaus notwendig werdende Rebellion, für geistigen Widerstand und unerläßliche Qualitätsunterscheidungen. Der Mensch ist, Mängelwesen hin oder her, Bestandteil der lebendigen Natur, und das Leben selbst ist letztlich mehr als die Summe seiner Institutionen, die Schnecke ist mehr als das Schneckenhaus.

Das ändert nichts daran, daß Gehlens Denken ein machtvolles Antidot gegen leere "Selbstverwirklichung" und freche Egalisierungswut ist, genau das Richtige für den aktuellen Diskurs. Wenn Gehlen heute sowohl von rechts wie von links wiederentdeckt, durchforscht und weiterentwickelt wird, so ist das ein gutes Zeichen, Signal dafür, daß sich die Ära der frei schwebenden Quallen und Schleimballen ihrem Ende nähert.

Von den beiden Büchern ist Weißmanns übrigens das bessere: besser geschrieben, verständnisvoller im Zugriff. Der Band von Thies leidet etwas unter famulushaftem Kästchendenken. Anregende Lektüre bietet aber auch er. Wer beide Bücher zusammen liest, findet ausgezeichneten Zugang zu einem Schriftsteller, dessen größte Wirkung möglicherweise noch bevorsteht.

 

Karlheinz Weißmann: Arnold Gehlen. Vordenker eines neuen Realismus. Edition Antaios, Bad Vilbel 2000, 112 Seiten, geb. 24 Mark

Christian Thies: Gehlen zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2000, 176 Seiten, Tb., 25,80 Mark


 
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