© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/00 20. Oktober 2000

 
Der Letzte von gestern
Für Kuehnelt-Leddihn führten alle Wege nach Rom
Jutta Winckler

Gelehrte Bücher, die packen, sind selten, sehr selten. Der 1999 neunzigjährig verstorbene Steiermärker Erik Ritter von Kuehnelt-Leddihn hinterließ uns ein solches. Sein dickleibiger Lebensbericht ist atmosphärisch dicht, kommt Seite für Seite auf den Punkt, schildert und bewertet die Zeitläufte im Lichte seiner vasten Bildung. Trocken ist das Werk allenfalls in seinen 1.147 Anmerkungen, deren winziger Schriftgrad den Leser strapaziert. Gleichwohl wird diese Anstrengung reich entlohnt, entpuppt sich die Bleiwüste doch als Schatzkammer aus unkonventionellen Perspektiven, überraschenden Hintergrundinformationen und wertvollen Ratschlägen, wo jeweils mit Gewinn weiterzulesen sei.

Um einen autobiographisch strukturierten Text von solch enormer Weite abfassen zu können, mußte seinem Verfasser "die Gnade der frühen Geburt und des späten Todes" (Peter Boßdorf) beschieden sein. Der Altösterreicher studierte in Wien und Budapest, lehrte 1937 bis1947 an US-Universitäten, bereiste über hundert Länder, veröffentlichte seine dreißig Bücher und zahlreichen Essays in fünfzehn Sprachen, in zweiundzwanzig Staaten, bereiste den Globus die Länge und die Breite, war Edelmann, Privatgelehrter, Romancier, Homme de lettres, Maler, Tiroler und ein allzeit pianischer Katholik. Am 26. Mai 1999 starb er in Lans bei Innsbruck am Fest des Hl. Philipp Neri, dessen frommer Schalk ihm nicht fremd war. Von einer Vortragsreise nach Kanada zurück, saß der Hochbetagte die letzten Tagen seines Lebens über den Korrekturbögen seiner Rechenschaftsablage.

Die Erinnerung der Schreibenden wanderte nach Aufblättern der ersten Seiten nach Ravensburg am Bodensee, wo sich zu Beginn der neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts die konservativ-nonkonforme Jugend Deutschlands zur ersten Sommeruniversität der JUNGEN FREIHEIT versammelte. Star der österreichischen Referenten war ein baumlanger wuchtiger Greis mit Löwenhaupt und jenem eigentümlich jugendhaften Habitus, mit dem auch der neunzigjährige Ernst Jünger seine Besucher verblüffte. Der frei formulierte zweistündige Vortrag, eine Tour d’horizon bester Leddihnscher Couleur, beeindruckte das Auditorium tief: "altkatholisch" wie Cortés, altliberal wie Burke, altkonservativ wie die Ebner-Eschenbach, alteuropäisch wie Metternich, altösterreichisch wie Radetzky. Die junge Mannschaft verließ die JF-Akademie im Bewußtsein, einem besonders gelungenen Exemplar der Gattung begegnet zu sein. Wie das? Ein kursorischer Blick in das vorzustellende Werk gibt Antwort.

Kuehnelt kennt keine Verwandten, wenn es um das geht, was re vera der Fall ist: Ob ethnische Charakterologie, ob wirtschaftliche, politische oder militärische Konstellation, ob ideologischer, religiöser oder psychologischer Befund, ob Nähkästchengeplauder, ob dozierende Passagen – sein stilsicheres Parlando unterhält superb, bis schiere physische Ermüdung dem Gesichtssinn ein Unterbrechen auferlegt, den gebannten Leser zur Fortsetzung anderntags zwingt.

Gleichwohl kann der Leser sich mit steigender Seitenzahl des Eindrucks schwerlich erwehren, es handele sich, statt einer souverän erzählten Autobiographie (die Leddihn ja bereits vorgelegt hat), hier um eine episch ausgeformte Aphorismensammlung, einen al fresco hingeworfenen Anekdoten- und Perspektivenspiegel zu berühmten (und auch bloß prominenten) Personagen des verflossenen Jahrhunderts. Da ist der lutheranische Universitätstheologe Paul Tillich, "ein Sexualdemokrat", ist ein Francisco Ferrer, "ein katalanischer Anarchist, der in Barcelona eine Freidenkerschule gründete", ist ein "Professor Stinnes, dessen Frau eine von Schulze-Gävernitz war", ist der "Oberrabiner Baeck, der mit Paul Thun-Hohenstein, einem angeheirateten Onkel meiner Frau, befreundet" gewesen sein soll, und nicht von ungefähr glaubt die Leserin unserer Tage, einer Konversationsrunde im Alten- und Pflegeheim St. Emmeran beiwohnen zu müssen.

Überdies ist ein forciert reaktionärer Gestus durchaus dazu angetan, selbst Wohlwollenden die Lektüre zu vergällen: Nachgerade liturgische Schubladisierungs-Iterationen, die Obsession eines weltanschaulichen Registerwesens, ein abgebrauchter O-Mensch-Kulturpessimismus, der "nach dem Ende der Ideologien" (Günter Rohrmoser) altbacken anmutet. Skurril das fast zwanghafte blutsverwandschaftliche Inbeziehungssetzung Erwähnter zur Sippe des Autors ("Max Thurn-Valsassina, ein Vetter zweiten Grades meiner Frau"), dazu marottenhafte Stereotypen wie "rechtsdrallig", "linksdrallig", "konvertiert", "gottlos", weiter die zwar faktengestützte, doch nervig-durchgängige Pose des Rundum-Bescheidwissers ("Die amerikanischen Unitarier waren nicht einmal mehr Theisten."), der k.u.k.-abkünftige Blick ins Boudoir der Weltgeschichte ("Maritain stand ganz unter dem Einfluß seines Freundes, des baskischen Exilpräsidenten Aguirre."), unsäglich das Klatschhafte, sich steigernd ins Schwafelnde ("Meine Schwester verwies mich an ihren Hausarzt, der auch die Akupunktur betrieb."), und gelegentlich stört ein unkatholisch gefärbter Zynismus ("Ich fuhr nach Spanien. Ich wollte mir den Bürgerkrieg nicht entgehen lassen.").

Freilich soll über viele entbehrliche Passagen des Werkes nicht vergessen werden, daß seine Vorzüge so evident sind, daß es in keiner rechtskonservativ-katholischen Privatbibliothek fehlen sollte. Gerade den Jüngeren, denen die Gnade der frühen Geburt nicht vergönnt ist, tritt während der Lektüre besagter Leddihnscher Confessiones eine untergegangene Geisteswelt plastisch vors geistige Auge. Besonders die Anmerkungen überführen mit ihrer Faktendichte viele (rechte wie linke) Dogmen des Weltbürgerkriegs schierer Vorurteilshaftigkeit. Doch wer möchte wissen, daß Sokrates nicht von Tyrannenwillkür getötet wurde, sondern im Verlauf eines politischen Prozesses, nachdem er seine harsche Kritik an demokratischen Zuständen nicht hatte widerrufen wollen? Wer möchte im Jahr 2000 folgende Passage für seine eigene staatsbürgerliche Praxis handlungssteuernd realisieren: Im Februar 1914 debattierten Außenamtschef Grey und der Londoner US-Botschafter über Mexiko. Der Brite war skeptisch bezüglich einschlägiger nordamerikanischer Umerziehungsversuche: "Das werdet Ihr doch nicht zweihundert Jahre hindurch tun können", gab Grey zu bedenken, worauf Charles Page ihm antwortete: "Doch, die Vereinigten Staaten werden auch in 200 Jahren noch da sein und in dieser kurzen Zeit weitere Völker zusammenschießen, bis die gelernt haben, Leute zu wählen und sich demokratisch regieren zu lassen."

Pars pro toto stehen diese wenigen Beispiele, bei denen wir es umständehalber belassen müssen; sie mögen Appetit machen auf die befreiende Weite des großartigen Leddihnschen "Revisionismus", der für den Bereich des Wissens historisch, geistesgeschichtlich und kulturtheoretisch ebenso versiert ist wie für den des Glaubens traditionskatholisch orthodox: In dieser heute extrem selten antreffbaren Kombination liegt der große Reiz und Gewinn der Lektüre; hier spricht zur Gegenwart ein Geist, für den es, nach einem Diktum des geistig wahlverwandten Günter Maschke, "in dieser Welt eigentlich keinen Platz mehr gibt". Und Realismus läßt keinen anderen Schluß zu, als daß Erik von Kuehnelt-Leddihn nicht einer der Ersten von morgen, sondern der Letzte von gestern gewesen ist. Nicht was die Zukunft des orbis catholicus anlangt, wohl aber mit Blick auf jene "alteuropäischen" (N. Luhmann) Lebens- und Mentalitätsformen, für die der steiermärkische Edelmann stand. Sie sind unwiederbringlich an ihr Ende gelangt, nachdem der Weltbürgerkrieg rechter und linker Jakobinerhaufen ihnen den gesellschaftlichen Boden entzogen hat. "Dennoch die Schwerter halten" hätte Gottfried Benn gesagt, nun, da von Jahr zu Jahr erkennbarer wird, daß die planetarische Durchdemokratisierung aller Verhältnisse gleichbedeutend sein wird mit dem Verlust von individueller Differenz, libidinöser Sublimation,persönlichkeitsbildender Komplexität, kurz: Reprimitivisierung – und abermals dreht sich das Rad.

 

Erik von Kuehnelt-Leddihn: Weltweite Kirche. Begegnungen und Erfahrungen in sechs Kontinenten 1909–1999. Christiana-Verlag, Stein am Rhein 2000, 605 Seiten, viele Abb., 48 Mark


 
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