© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/00 20. Oktober 2000

 
Fußtritte aus dem Panoptikum
Alexander Osangs Medien-Roman "die nachrichten" schildert die Wendezeit und ihre Folgen
Andreas Wild

Literarisch Ding will Weile haben. Gut zehn Jahre dauerte es seinerzeit, bevor nach dem Ersten Weltkrieg die ersten wohlgeordneten Romane (von Beumelburg, Renn, Dwinger, Arnold Zweig) herauskamen, die das gewaltige Geschehen halbwegs zu bändigen wußten und zustimmungsfähig in Worte faßten.

Mit der deutschen Wiedervereinigung von 1989/90 verhält es sich nicht anders. Erst heute, zehn Jahre danach, erscheinen Erzählungen über diese Zeit und ihre Folgen, die mehr sind als verfrühte Stahlgewitter à la Brussig oder Loest, die das Ereignis wirklich in einen Rahmen rücken, seine historische Dimension erahnen lassen.

Alexander Osangs Roman "die nachrichten" (Fischer Verlag, Frankfurt am Main) gehört zu diesen Büchern. Im Vergleich zu dem anderen großen "gesamtdeutschen" Roman dieses Jahres, Michael Kumpfmüllers "Hampels Fluchten", schneidet er sogar besser ab als dieser, erfüllt das Genre genauer, was auch daran liegen mag, daß sein Autor ein typischer "Ost-Wessi" ist, einer, der im Gegensatz zu Kumpfmüller auf beiden Seiten existenzhaltige Erfahrungen sammeln konnte.

Osang (38) ist Journalist, Zeitungsreporter aus Ost-Berlin, der dort schon in Vorwendezeiten zugange war, nach ’89 für die Berliner Zeitung schrieb, inzwischen beim Spiegel  gelandet ist und im Augenblick ein Praktikum in New York absolviert. "die nachrichten" ist sein erster Roman, kein Buch wohl, das als Geniestück und Volltreffer in die Literaturgeschichten eingehen wird, vom Niveau her etwa mit Remarques "Im Westen nichts Neues" vergleichbar, aber als Zeitdokument und deutsches Seelendiagramm hochinteressant und darüber hinaus mit mancherlei kräftigen Bildern und Lektüre-Späßen ausgestattet.

Es ist ein "Medienroman", was die Aktualität und Brisanz des Buches prickelnd anreichert, die Geschichte vom Hamburger ARD-Nachrichtensprecher Jan Landers (34), der aus dem Osten stammt und eines Tages in den Verdacht gebracht wird, für die Staatssicherheit der DDR als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) tätig gewesen zu sein. Er wird sofort vom Dienst suspendiert und macht sich nun in den Osten auf, um die Wirkungsstätten seiner Kindheit und Jugend abzusuchen und dem "Verleumdungsfall" nachzuspüren.

Doch Osangs Interesse wendet sich schnell von Landers ab, der ein oberflächliches Früchtchen ist, als Charakter wenig hergibt. In den Mittelpunkt der Handlung rücken jene Gestalten, die hinter Landers, genauer: hinter seiner Stasi-Vergangenheit, her sind und sich von ihrer Enthüllung diversen Nutzen versprechen. Ein gesamtdeutsches Leutepanorama entfaltet sich, das einem düster-komischen Panoptikum gleicht, freilich einem Panoptikum, dessen Besatzung hinterrücks Fußtritte austeilt.

Da ist die (ebenfalls aus dem Osten stammende) Spiegel-Reporterin, die vor Enthüllungsehrgeiz geradezu platzt und den Fall ins Rollen bringt. Da ist der versoffene ex-kommunistische Lokalreporter aus Neubrandenburg, der der Spiegel-Dame zuarbeitet, weil er dadurch selber ganz groß herauszukommen hofft. Da ist der Mitarbeiter der Gauckbehörde, ein gut erfundener (oder doch nicht erfundener?) Poltergeist, der originäre Akteneinsicht hat, seine Arbeit insgeheim verachtet und mit den Spürhunden eine höhnisch hinhaltende Schnitzeljagd veranstaltet.

Und da ist, nur knapp, aber grell angeleuchtet, die Zentralfigur des Panoptikums, der Stasi-Major a. D., der einst Landers‘ Führungsoffizier war und den Jungen mit seinem Wissen komplett vernichten könnte. Er zieht es aber vor, Selbstmord zu begehen, als der Spiegel  bei ihm auftaucht und tausend Mark anbietet. Er stürzt sich spektakulär aus seinem Wohnungsfenster auf die Karl-Marx-Allee – und wird damit faktisch zum einzigen ernstzunehmenden "positiven Helden" des Romans.

Alle anderen haben Dreck am Stecken, den sie zu verbergen suchen. Landers, um den sich alles dreht, war in seiner NVA-Zeit Diskjockey im Kultursaal seines Regiments und hat damals natürlich mit der Stasi zusammenarbeiten müssen. Er hat die Affäre aber komplett verdrängt, und da seine Akte am Ende zerschnipselt ist und der Führungsoffizier heroisch auf den Friedhof der Sozialisten nach Friedrichsfelde abgegangen ist, darf Landers wieder Nachrichten vorlesen, heiratet sogar die Tochter eines reichen Hamburger Brauereibesitzers und ist nun endlich voll in der High Society von Sylt angekommen.

All das ist zweifellos gut erzählt, wenn auch stilistisch und psychologisch nicht allererste Klasse. Osangs Stärke ist die impressionistische Schilderung dessen, was über den Weg läuft. Hier schöpft er ungeniert aus dem vollen seiner eigenen ost-westlichen Reportererfahrung, und es gelingen ihm treffliche Porträts, in denen der Leser sofort die entsprechenden realen Polit- und Mediengrößen aus BRD und Ex-DDR wiedererkennt.

Gleich zweimal, am Anfang und am Ende seines Opus‘, versichert Alexander Osang, daß alles "frei erfunden" sei und alle eventuellen Ähnlichkeiten "rein zufällig" seien. Es ist aber überhaupt nichts erfunden, und die Ähnlichkeiten sind auch nicht zufällig. Personen der Zeitgeschichte, die in der Wirklichkeit aus Mecklenburg stammen und von Beruf Pfarrer sind, stammen im Buch aus dem Vogtland und sind von Beruf Küster, und ähnlich putzig geht es bei allen übrigen Verkleidungen zu. Die Draperien in diesem Buch sind eindeutig dazu da, um durchschaut zu werden.

Aber war es 1929 bei Beumelburg und Arnold Zweig denn anders? Die Erkennbarkeit der Umstände ist es nicht, die diese Autoren vorteilhaft von Alexander Osang abhebt. Eine große Differenz liegt vielmehr darin, daß es bei Zweig und den anderen 1929ern Bezugspersonen gab, mit denen sich der Leser identifizieren mußte, ob er wollte oder nicht, und die nötig sind, damit ein Roman zu einem richtigen Roman werden kann.

Bei Osang gibt es als einzigen, der für seine Handlungen einsteht und bis zuletzt er selber bleibt, einen dubiosen Stasi-Offizier. Doch vielleicht liegt diese Fatalität gar nicht an Osang, sondern an dem gesamtdeutschen Nachwendepersonal, das zu schildern er sich ausgesucht hat. Es gibt gewiß auch andere Gestalten. Man muß nur fleißig und professionell recherchieren.


 
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