© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/00 20. Oktober 2000

 
"Ich habe nur gesungen"
Zum 100. Geburtstag der Opernsängerin Erna Berger
Wiebke Dethlefs

Musik war der zentrale Punkt im Leben der bedeutendsten deutschen Koloratursopranistin des 20. Jahrhunderts. Als sie, 88jährig, in ihrer Autobiographie zurückblickt, ist trotz des resignativ scheinenden Mottos, wonach sie "nur" gesungen habe, kein Selbstmitleid oder Bedauern zu spüren. Aber sie umreißt so jene Einschränkungen, die ihr Leben gegen alles abschirmten, was nicht mit ihrer sängerischen Arbeit zu gute kam.

Das lange und erfolgreiche Leben der Erna Berger begann in Cossebaude bei Dresden, wo sie am 19. Oktober 1900 zur Welt kam. Sie wuchs in ziemlich unbürgerlichen, fast ungeordneten Verhältnissen auf, denn sie wurde von Verwandten und nicht von den Eltern erzogen. Ihr Vater, der Eisenbahningenieur war, geriet 1914 in Ostafrika beim Bau der Tanganjika-Bahn in englische Gefangenschaft. Nach seiner Freilassung entschlossen sich die Eltern, nach Südamerika auszuwandern. Erna folgte ihnen, arbeitete in Montevideo als Hauslehrerin, kehrte jedoch 1923 allein nach Deutschland zurück. In Dresden, nach kurzen Gesangsstudien, wurde sie von Fritz Busch 1925 für kleine Rollen an die Staatsoper verpflichtet, wo sie als einer der drei Knaben in der "Zauberflöte" debütierte. Sie selbst hätte damals nie an eine Sängerkarriere gedacht, da sie nach der Rückkehr aus dem "Urwald", wie sie es nannte, nur eine Stellung suchte und nebenbei ihrer Sangesneigung nachgehen wollte. Die sieben Jahre, die sie nun an der Dresdner Oper zubrachte, waren für die zierliche, nur 1,50 Meter große Erna Berger eine Zeit intensiven Lernens, in der sie aber auch eine ungewöhnliche Bühnenpräsenz zu entwickeln verstand. Sie war stets das, was sie spielte, ob zart und anrührend, keck und raffiniert, knabenhaft oder von mädchenhaftem Charme. Mit dem Weggang von Dresden an die Berliner Staatsoper wuchs sie dann in ihre eigentliche Karriere hinein und kreierte dabei ein Fach, das es bis dato noch nicht gab, nämlich den leichten lyrischen Sopran. Wilhelm Furtwängler nannte sie damals "die beste Sängerin, die wir haben". Bis weit in die fünfziger Jahre hinein war sie in Berlin die regierende Konstanze, Gilda, Zerbinette, Despina, Zerlina und Susanna. Ihrem Bühnenrepertoire sind noch die Rosina aus dem "Barbier", die Olympia in "Hoffmanns Erzählungen", das Ännchen im "Freischütz" und nicht zuletzt der Cherubino im "Figaro" nachzutragen. Nur selten unternahm sie Ausflüge in Film und Fernsehen. In guter Erinnerung ist noch der Streifen "Die schwedische Nachtigall" von 1942, wo sie die Lieder sang, die Franz Grothe für Ilse Werners Rolle der Jenny Lind geschrieben hatte.

Ihr Koloratursopran, der zu einer exquisiten musikalischen Schönheit reifen konnte und einer besonderen Klarheit der Diktion mit unerreichter musikalischer Reife verbunden war, trug ihr auf Gastspiel- und Konzertreisen in alle Kontinente den Ruf der strahlendsten deutschen Koloratursopranistin ein. Die silbrige, glockenklar wirkende, mädchenhafte Stimme band sie jedoch auch in fortgeschrittenem Alter an jugendliche Rollen, was sicher das Hauptproblem war, das sie 1954 veranlaßte, den Abschied von Bühne und Konzertpodium zu nehmen und nur noch als Gesangslehrerin zu wirken, was sie bis 1971 am Hamburger Konservatorium gewesen ist.

Ihr diszipliniertes Leben ließ keinen Platz für rauschende Feste oder primadonnenhafte Auftritte im Kreise ihrer Anhänger. In ihrer Arbeit duldete sie keinerlei Nachlässigkeit oder Halbheiten. Nie hat sie in eine bequemere Lage transponiert und nie mit zusätzlichen Trillern ihreVirtuosität herausgestellt. Doch die Musik verdrängte nicht nur ihr Privatleben. Die Größen des Dritten Reiches mochte sie nicht, aber was sich politisch ereignete, nahm sie kaum wahr. Und obwohl sie sich auch im hohen Alter an jede Inszenierung, jeden Regieeinfall und die Eigenheiten der Dirigenten erinnern konnte, hatte sie stets Schwierigkeiten, sich an das Jahr des Kriegsendes zu entsinnen. Ihre Zeitrechnung schien andere Einheiten gekannt zu haben, und der Zusammenbruch Deutschlands war wahrscheinlich für sie nur Teil einer schweren Zeit, in der sie der äußeren Katastrophe zum Trotz tat, was sie tun mußte: singen. Sie lehnte es ab, das im Bombenhagel in Trümmer versinkende Berlin zu verlassen. Sie sang in der Oper zwischen Entwarnung und neuem Alarm. Sie kam mit dem Fahrrad zur Oper und fuhr zu Konzerten in vollen Flüchtlingszügen oder lag bei Fliegerangriffen zwischendurch im Straßengraben. Ihr Publikum wartete auf sie, und sie verhalf den Musikfreunden zu unvergeßlichen Augenblick unzerstörbaren Glücks in jenen Tagen. Doch auch ihr half die Trösterin Musik, die Not in der zerbombten Reichshauptstadt und das Scheitern ihrer Ehe zu überleben.

Ihren Altersruhesitz bezog sie in Essen, in der Nähe vieler alter Freunde. Doch ohne Beschäftigung blieb sie nie. Sie schrieb ihre Memoiren "Auf Flügeln des Gesanges" nieder, reiste als Ehrengast zum 100. Jubiläum der New Yorker Met, 1985 zur Wiedereröffnung der Semperoper nach Dresden und wurde in Berlin an ihrem 85. Geburtstag zum Ehrenmitglied der Staatsoper ernannt. Sanft starb sie am 14. Juni 1990, wenige Monate vor ihrem 90. Geburtstag und fand ihre letzte Ruhestätte auf dem Wiener Zentralfriedhof, ganz in der Nähe von Beethoven, Schubert und Brahms.

Wofür Erna Berger lebte und kämpfte, ist schöner kaum formulierbar als in den Worten Werner Egks: "Durch Erna Berger verstand ich, was Singen bedeuten kann; sich mit Leib und Seele ausliefern, alles beherrschen, was man ist, und alles einsetzen, was man kann."

 

Erna Berger: Auf Flügeln des Gesanges. Erinnerungen einer Sängerin. Atlantis, Zürich 1988, 192 Seiten, 38 Mark

Zwei empfehlenswerte Operngesamtaufnahmen mit Erna Berger: Flotow, Martha (Dirigent Johannes Schüler), 1944; Offenbach, Hoffmanns Erzählungen (Artur Rother), 1946


 
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