© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/00 27. Oktober 2000


Machterhalt vor Frieden
von Michael Wiesberg

Der israelische Premier Ehud Barak läßt derzeit keinen Zweifel daran, daß er dem "Friedensprozeß" mit den Palästinensern keine Chance mehr gibt. Ausgerechnet mit dem Scharfmacher Ariel Scharon vom Likud-Block hat Barak jetzt Verhandlungen aufgenommen, um eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden.

Scharon war es, der mit seinem Besuch auf dem Tempelberg die blutigen Unruhen ausgelöst hat. Mehr als 120 Tote, meist Palästinenser, sind bisher zu beklagen. Wenn Barak jetzt mit Scharon in Verhandlungen eintritt, kommt dies einer kaum noch zu überbietenden Brüskierung der Palästinenser gleich. Palästinenser-Präsident Jassir Arafat hat auf seine Weise auf diese unverhüllte Provokation reagiert. "Zur Hölle" könne Barak fahren, gab Arafat zu Protokoll. Die gemäßigten Kräfte in der derzeitigen israelischen Regierung ahnen, was sich da zusammenbrauen könnte. Justizminister Jossi Beilin wies in diesem Zusammenhang darauf hin, daß Scharon nach wie vor fordere, daß Barak seine Zugeständnisse an die Palästinenser auf dem Nahost-Gipfel in Camp David zurücknehmen solle. Soll es wirklich zu einer Koalition mit dem Likud-Block kommen, wird Barak Scharon in irgendeiner Art und Weise entgegenkommen müssen. Ansonsten drohen Neuwahlen, die das Ende der Ära Barak nach sich ziehen könnten. Der eigene Machterhalt scheint Barak dieser Tage eine höhere Priorität zu haben als eine langfristige Einigung mit den Palästinensern. Diese Kurzsichtigkeit, mag sie politisch auch nachvollziehbar erscheinen, könnte in der Konsequenz den ganzen Nahen Osten in ein Pulverfaß verwandeln.


 
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