© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/00 27. Oktober 2000

 
"Sorgen der Bürger ernst nehmen"
Friedhelm Farthmann über Zuwanderung, den Begriff "deutsche Leitkultur" und die Zukunft der SPD
Moritz Schwarz / Jörg Fischer

Herr Professor Farthmann, die Regierungskoalition hat eine Offensive für Zuwanderung gestartet. Nun erhält sie Unterstütztung von der Industrie. Was verbirgt sich hinter der Forderung der Unternehmen nach mehr Zuwanderung?

Farthmann: Die Industrie will nicht Zuwanderung, sondern die Freiheit, aus dem Ausland Experten anzuwerben. Das hat mit dem Zuwanderungsproblem nichts zu tun. Das Zuwanderungsproblem ist ein Problem der großen Zahl. Zuwanderung wird also nur dann zum Problem, wenn viele zuwandern wollen. Handelt es sich nur um einige zehntausend Experten, so ist das keine relevante Größenordnung, denn bei Zuwanderung geht es um Hunderttausende oder gar Millionen.

Verknüpft aber nicht die Koalition in ihrer Argumentation auf unzulässige Weise beide Fragen, um ihr ideologisches Einwanderungs-Ziel durchzusetzen?

Farthmann: Mit irrationalen Argumenten geht nicht nur die Bundesregierung um, sondern leider alle politischen Gruppen. Die einen wollen so Emotionen gegen eine Begrenzung der Zuwanderung erzeugen, die anderen dafür. Ich rate, die Diskussion sauber zu führen und zu erklären, was jeweils gemeint ist. Die Frage "Brauchen wir Experten aus dem Ausland?" muß klar beantwortet werden. Und falls sie bejaht wird, handelt es sich dabei nicht um ein Problem allgemeiner Zuwanderung.

Stiehlt sich die Industrie mit ihrem Expertenimports nicht aus ihrer Verantwortung gegenüber der Nation, für die Ausbildung des eigenen Nachwuchses zu sorgen? Sie trägt schließlich Mitschuld an der Ausbildungsmisere.

Farthmann: Richtig, sie trägt sie sogar in erster Linie. Es darf natürlich nicht versäumt werden, unseren eigenen Nachwuchs heranzubilden. Die Frage ist allerdings, ob man daraus jetzt die Konsequenz zieht, den Expertenimport nicht zuzulassen.

Müssen die Arbeitnehmer beim begrenzten Experten-Import Lohndumping fürchten?

Farthmann: Das ist zumindest theoretisch möglich. Deshalb verstehe ich auch gewisse Befürchtungen in den Gewerkschaften. Trotzdem sehe ich im Moment dazu keine Alternative, weil wir andernfalls auf Wachstumschancen in der Volkswirtschaft verzichten müssen.

Was halten Sie von dem Versuch, dasThema Zuwanderung dem Volk im Wahlkampf vorzuenthalten?

Farthmann: Ich kann mich über die gezielte Emotionalisierung und sogar Unaufrichtigkeit in der Diskussion um die eigentliche Zuwanderung nur wundern. Wenn sich etwa jemand – wie ich – dagegen wendet, daß wir grenzenlose Zuwanderung zulassen, dann verwahre ich mich dagegen, ihn als ausländerfeindlich hinzustellen.

Was ist für Sie ausländerfeindlich?

Farthmann: Der Begriff "ausländerfeindlich" hat sich vor allem zu orientieren an den Ausländern, die hier bei uns leben. Denn die haben ja zu ertragen, wenn ihnen hier Feindseligkeit entgegenschlägt. Und diese Feindseligkeit in der Bevölkerung können wir nur dann verhindern, wenn wir den Menschen die Angst nehmen vor einer unkontrollierten Zuwanderung: die Angst der Deutschen, etwa vor Konkurrenz um Arbeitsplätze, vor Mißbrauch sozialer Leistungen und auch vor dem Verlust kultureller Identität. Wenn die Menschen diese Sorgen vernünftig äußern, halte ich das für legitim. Natürlich ist richtig und wichtig, daß wir diejenigen, die kriminell gegen Ausländer vorgehen, hart bestrafen. Viel wichtiger aber ist, daß ausländerfeindliche Gewalttäter keine Resonanz in der Bevölkerung finden. Die große Mehrheit unserers Volkes ist zweifellos nicht ausländerfeindlich eingestellt. Deutschland ist ein weltoffenes Land. Und dies wird auch so bleiben, wenn wir über die Fragen und Ängste der Menschen hier nicht hinweggehen. Man hilft den Ausländern hier am allermeisten, wenn man vehindert, daß Angstgefühle in Aggressivität umschlagen. Wenn jetzt ausländische Experten ins Land kommen, muß den Menschen vermittelt werden, daß eine allgemeine Öffnung der Schleusen für Zuwanderung damit nicht beabsichtigt ist. Meine Position in der Ausländerpolitik läßt sich wie folgt zusammenfassen. Erstens: Die Ausländer, die bei uns sind – die wir übrigens zum großen Teil einstmals selber angeworben haben – ,verdienen die gleiche Solidarität und Mitmenschlichkeit, wie wir Deutschen sie untereinander auch üben. Dabei darf es überhaupt keinen Unterschied geben! Zweitens: Es dürfen nur noch Ausländer zu uns kommen, die wir entweder selbst gerufen haben oder die politisch verfolgt werden und in ihrer Heimat um Leib und Leben fürchten müssen. Alle anderen sollten nicht zugelassen werden, weil wir nicht das Elend dieser Welt bei uns lösen können.

Einerseits versucht man unter Ausnutzung unseres nationalen Schuldkomplexes mit diesem "Elend" billig Einwanderungspolitik zu machen. Andererseits gibt es aber auch eine konservative Verpflichtung zu christlicher Solidarität.

Farthmann: Natürlich. Wir sollten aber den Menschen vor Ort helfen – das ist auch sehr viel effektiver – ,und dazu leisten wir Entwicklungshilfe. Aber die Anwendung des Christuswortes: "Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid" auf alle Menschen dieser Welt, die Not leiden, überfordert unsere Bürger und erzeugt das, was wir heute als Ausländerfeindlichkeit bezeichnen.

Eine Einwanderungsbegrenzung ist also auch im Sinne der Ausländer in Deutschland?

Farthmann: Absolut. Und wer sich auch mit unseren ausländischen Mitbürgern beschäftigt und nicht nur über sie spricht, der weiß, daß es manchmal gerade die ausländischen Bürger sind, die mehr Angst vor mehr Zuwanderung haben als die Deutschen.

Ist es nicht erstaunlich, daß keine Partei sieht, daß Ausländer und Deutsche gemeinsam gegen weitere Zuwanderung stehen?

Farthmann: In der Tat. Das liegt zum Teil auch daran, daß wir die ganze Ausländerdiskussion derartig ideologisch befrachtet haben und daß viele sich gar nicht mehr trauen, ihre eigene wirkliche Auffassung zu formulieren. Es ist natürlich ein Mangel an Demokratie, wenn nicht das ganze Meinungsspektrum zum Ausdruck kommt. Deshalb ist auch die sogenannte political correctness, zumindest deren extreme Ausprägung, so verderblich.

Fehlt in Deutschland nicht ein positives Nationalgefühl, das Deutsche und Ausländer eine Basis bietet, gemeinsam eine selbstbewußte Nation zu bilden?

Farthmann: Ich glaube wohl, daß das in der öffentlichen Diskussion zu kurz kommt. Daß die Deutschen dafür ein Gefühl haben, glaube ich durchaus. Denn Sie erleben überall, daß etwa der türkische Kleinhändler genauso mit zum Stadtteil gehört und genauso von Deutschen aufgesucht wird. Die Deutschen haben ja gar nicht den Wunsch, sich abzugrenzen, sie haben nur die Angst, daß sie von der großen Zahl in die Enge getrieben werden.

Ist das Konzept der "deutschen Leitkultur", wie Friedrich Merz es angeregt hat, nicht ein Weg zur Integration und damit eine ausländerfreundliche Lösung, die den Deutschen ihre Ängste nehmen könnte?

Farthmann: Ich weiß nicht, was Herr Merz unter diesem Begriff versteht. Ich habe aber volles Verständnis dafür, daß Bürger sich mit ihrer Heimat identifizieren wollen. Dazu gehört natürlich auch die kulturelle Identifizierung. Und ich glaube, die meisten unserer Menschen wollen, daß Deutschland im Grundgefüge so bleibt, wie es von der abendländisch-christlichen Kultur geprägt worden ist. Ich habe in meiner aktiven politischen Zeit mit vielen Bürgern gesprochen, die mir mit Tränen in den Augen erklärt haben, daß sie die Straße, in der sie aufgewachsen sind und über fünfzig Jahre gelebt haben, nicht mehr wiedererkennen. Natürlich findet solcher Wandel aus vielerlei Gründen statt und ist grundsätzlich auch nicht zu beanstanden. Aber man ist als Politiker auch verpflichtet, solche Sorgen ernst zu nehmen.

Fordern Grüne und linke SPD nicht genauso eine deutsche Leitkultur, nur geben sie das nicht zu? Eine, etwa religiös motivierte, Differenz der Rolle der Frau in ausländischen Kulturen zum Beispiel würden sie nie und nimmer als gleichrangig zur deutschen Emanzipationskultur akzeptieren.

Farthmann: Das ist in der Tat eine seltsamer Widerspruch. Ich beobachte auch mit Verwunderung und nicht ohne ein gewisses inneres Amüsement, wie sich in diesem Punkt die Prinzipien stoßen. Das gilt auch für den Umweltschutz. Denn jeder, der unbegrenzte Zuwanderung will, muß wissen, daß mit jeder Million zusätzlicher Bürger sounds viel Autos mehr auf den Straßen, soundso viel Abfall mehr, und soundso viel zusätzliche Bebauung verbunden ist. Allerdings habe ich insofern Bedenken gegen den Begriff "Leitkultur", als ich finde, daß man Menschen ihre Kultur nicht vorschreiben kann – das muß jeder in seiner Brust entscheiden.

Aber der Begriff "Leitkultur" beinhaltet das Akzeptieren verschiedener Kulturen – was sollte sonst auch angeleitet werden?

Farthmann: Dieser Begriff könnte aber auch bedeuten, daß Leitkultur angibt, was die Mehrheit denken soll. So etwas würde ich für links wie auch für rechts ablehnen,weil es freiheitsfeindlich wäre.

Wollen die Grünen den Menschen in diesem Land – Deutschen wie Ausländern – gar nicht nur eine deutsche, sondern genaugenommen eine linke Leitkultur aufzwingen?

Farthmann: Ich sehe diese Gefahr auch. In der Tat sind hier und da Anfänge von Meinungsterror zu erkennen. Gleichzeitig müssen Menschen aber auch das Recht haben, besonders politisch engagierte Menschen, ihre Meinung mit Nachdruck und mit Temperament zu vertreten. Wenn sich allerdings Journalisten oder gar Politiker zu Oberzensoren der Nation aufwerfen, dann kann ich nur auf die grundgesetzliche Meinungsfreiheit verweisen. Jedem muß seine eigene Argumentation erlaubt sein.

Was sind die Gründe für die ideologische Verbissenheit bei Grünen und linken Sozialdemokraten in Punkto Zuwanderung?

Farthmann: Ich glaube, da schimmert noch etwas Karl Marx durch: "Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!" Alle Armen dieser Welt müssen zusammenstehen gegen die Mächtigen dieser Welt. Das ist wohl die emotionale Wurzel. Warum sich das aber dann ideologisch als Kernanliegen der Grünen durchgesetzt hat, habe ich nie richtig verstanden. Das gilt übrigens auch für linke Sozialdemokraten, die ja stets hervorheben, daß ihnen die Sorgen des kleinen Mannes besonders wichtig sind.

Erklären Sie sich das auch als Flucht aus der eigenen Nationalität, um sich vor einer unbequemen Vergangenheit zu drücken?

Farthmann: Viele der 68er Generation haben sich angesichts der Verbrechen des Dritten Reiches tatsächlich geschämt, zu dieser Nation zu gehören, die ja auch absolut singuläre Verbrechen in der Weltgreschichte zu verantworten hat. Das ändert aber nichts daran, daß man, meiner Meinung nach, seiner Nation nicht entfliehen kann und sich zu ihr im Guten und im Bösen zu bekennen hat.

Muß das Asylrecht verändert werden, um es wieder zu seiner ursprünglichen verfassungsmäßigen Bedeutung zurückzuführen?

Farthmann: Es gibt nirgendwo auf der Welt – außer in Deutschland – ein einklagbares individuelles Recht auf Asyl mit allen Möglichkeiten der Verlängerung des Aufenthaltes durch die Einlegung von Rechtsmitteln. Wir müssen uns uneingeschränkt zum Schutz politisch Verfolgter bekennen. Die Prüfung, ob die Voraussetzungen politischer Verfolgung vorliegen, muß aber nach Gesichtspunkten verwaltungsmäßiger Produktivität geregelt werden können.

Seit 1998 sind die Sozialdemokraten wieder im Bund an der Macht.Wie beurteilen Sie den sozialpolitischen Kurs der SPD seitdem?

Farthmann: Die Deutschen, und wohl auch die meisten Funktionäre ahnen vermutlich gar nicht, welch eine gewaltige Veränderung für die SPD in dieser Hinsicht seit Antritt der neuen Bundesregierung stattgefunden hat und noch stattfindet. Die SPD ist trotz aller anderen politischen Aktivitäten, wie etwa der Ostpolitik, immer in erster Linie eine sozialpolitische Partei gewesen. Das war über hundert Jahre das Herzstück ihrer Politik. Nun können wir aber seit etwa zwanzig Jahren eine Entwicklung erleben, die darauf hinausläuft, daß mit der Sozialpolitik keine politischen Schlachten mehr zu gewinnen sind. Eine Ausweitung sozialpolitischer Leistungen ist inzwischen aus verschiedenen Gründen undenkbar. Die gelernten Sozialpolitiker stehen deshalb mit dem Rücken zur Wand und versuchen, das, was in einem langen politischen Kampf an sozialen Leistungen errungen worden ist, wenigstens einigermaßen zu halten. Mehr ist überhaupt nicht drin. Das heißt: Die SPD muß sich von ihrer sozialpolitischen Grundrichtung lösen. Und Gerhard Schröder ist seit dem Verschwinden Oskar Lafontaines voll dabei, dieses Ziel zu erreichen. Man kann von ihm halten, was man will, aber allein wenn er erreichen sollte, die Sozialdemokratie von ihrer hundertjährigen sozialpolitischen Last zu lösen und zu einer modernen Volkspartei zu führen, wäre das bereits eine gigantische historische Leistung. Die Frage bleibt natürlich, was dann noch die SPD ausmacht. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder die nordamerikanische Lösung, also eine große Volkspartei ohne programmatische Ausrichtung – nach dem Motto: Mannschaft A spielt gegen Mannschaft B, und die bessere gewinnt die Wahl. Die großen Volksparteien unterscheiden sich dann nicht mehr wesentlich: Oder man muß sich eine neue programmatische Grundrichtung suchen. Ich habe in meinem Buch "Blick voraus im Zorn" dafür plädiert, die SPD solle die Umweltpolitik zur neuen Leitidee machen. Das ist aber natürlich nicht einfach.

Ist die SPD zum "Genossen der Bosse" geworden?

Farthmann: Die SPD hat einen Wahlkampf mit den Parolen von gestern geführt. Und die Bürger haben ihr das sogar abgenommen. Die Bürger haben geglaubt, soziale Sicherung und Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sei noch gleichzeitig machbar. Das aber war ein Irrtum, wie sich bald nach der Wahl gezeigt hat. Dies hat Schröder erkannt, und zwar mit bewundernswert strategischem Blick. Er weiß, daß er die SPD von dieser sozialpolitischen Verknüpfung lösen und sie zu einer modernen Volkspartei, die auch den Notwendigkeiten der Globalisierung entspricht, machen muß.

Wird es also, wie es immer heißt, sozial "kälter" werden in Deutschland?

Farthmann: Das ist auch so ein Totschlag-Argument, mit dem man Emotionen wecken will, um Positionen zu verteidigen. Wir verteidigen aber heute einen wesentlich höheren sozialpolitischen Standard als in früheren Jahrzehnten, der auch höher ist als in den meisten Teilen der übrigen Welt. Für unsere Väter war der bisherige soziale Standard kaum vorstellbar. Nun müssen wir aber mehr Eigenverantwortung in die Sozialpolitk einführen, wenn wir die Grundstruktur erhalten wollen. Das ist die unausweichliche Anpassung an das gestiegene Niveau unserer Gesellschaft.

 

Prof. Dr. Friedhelm Farthmann geboren 1930 in Bad Oeynhausen. Er studierte Rechtswissenschaften in Göttingen, Oldenburg und Düsseldorf und war danach zunächst beim Deutschen Gewerkschaftsbund tätig. Von 1971 bis 1975 war er Abgeordneter der SPD im Deutschen Bundestag, von 1975 bis 1985 Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales in Nordrhein-Westfalen und 1985 bis 1995 Fraktionsvorsitzender der dortigen Landtagsfraktion. Friedhelm Farthmann wird häufig als Schlichter in tariflichen und betrieblichen Auseinandersetzungen berufen. 1996 erschien sein Buch "Blick voraus im Zorn. Aufruf zu einem radikalen Neubeginn der SPD" (Econ-Verlag, Düsseldorf)

 

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