© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/00 27. Oktober 2000

 
Pankraz,
das Imperium und das Ungeheuer von Oregon

Zuerst hielt man es für Jägerlatein, für Förstergarn: Waldhüter im US-Staat Washington hätten "das größte Lebewesen aller Zeiten" entdeckt, ein Ungeheuer von der Ausdehnung mehrerer Fußballfelder, eine riesige Fleischmasse voller bleicher Fangarme, von mephitischem Gestank umhüllt, in unterirdischen Höhlen hausend und nur moment- und punktweise an die Oberfläche tretend. Man wollte seinem Nachrichtenticker nicht trauen.

Aber die Sache hatte ihre Richtigkeit. Das Monster war freilich kein Blauwal auf Landgang, kein Mammutbaum und auch kein Dinosaurier. Es war vielmehr ein Pilz, ein Wahnsinnspilz, ein Horrorpilz von der Unterklasse Ascomvetes. Jetzt soll erforscht werden, ob man den Riesen irgendwie wirtschaftlich nutzen kann oder ob er sich gegen jeglichen Angriff mit hochgefährlichen Giften gewappnet hat wie so viele andere Pilze.

Der Wissenschaft von den Pilzen wird der Fund zweifellos zugute kommen. Sie steckt ja, trotz der fleißigen Forscherarbeit zahlreicher Mykologen, immer noch in den Anfängen, was einerseits mit der gewaltigen Ausdehnung des Reiches der Pilze zu tun haben mag sowie mit seiner Heimlichkeit und Verborgenheit. Mehr als neunzig Prozent aller Pilz-Aktivitäten spielen sich unter der Erde, bzw. unter Wasser oder im Inneren von Organismen ab; Pilze scheuen, im Gegensatz zu Pflanzen und Tieren, das Sonnenlicht, sie sind garantiert chlorophylfrei und leichenhaft bleich.

Ihre Leichenhaftigkeit und Todesnähe macht sie auch abgebrühten Naturforschern grundsätzlich unsympathisch. Man richtet die Mikroskope lieber auf Pflanzen und Tiere statt auf Pilze, weil diese meistens erst ins Bild treten, wenn der Tod seine Ernte hält, wenn organische Körper aufgelöst und in ihre chemischen Urstoffe zerlegt werden.

Auch Tiere und Pflanzen leben vom Tod und vom Töten, doch Pilze "sind" der Tod. Überall, wo etwas mit einem lebendigen Körper nicht stimmt, setzen sie sich an und signalisieren Krankheit und bevorstehenden Untergang. Der mörderische Pilzstamm der Bakterien, ein wahres Kriegergeschlecht, ist dauernd unterwegs, um irgendwo einzudringen und Tod und Verderben anzurichten. Seinetwegen müssen die Tiere und Pflanzen in ihrem Inneren und auf ihrer Oberfläche ganze Armeen von Abwehrkräften unterhalten, von "Antikörpern", was also nichts anderes heißt als "Antipilze".

Andererseits könnte keine einzige Pflanze, kein einziges Tier ohne Pilze leben. Pilze bilden die "Darmfauna" in den tierischen Verdauungsorganen, die den Stoffwechsel erst möglich macht. Sie sorgen unterirdisch dafür, daß den Wurzeln der Pflanzen Nährstoffe zugeführt werden. Jeder Wald, jeder Feldrain ist gebunden an eine spezifische Pilzkultur: Allein sie läßt sie blühen und gedeihen. Forstleute haben denn auch schon dringend davor gewarnt, dem neuentdeckten Monsterpilz irgendwie zu nahe zu treten, denn von seiner unbeschädigten Existenz hinge eventuell die gesamte Flora von Washington und Oregon ab.

Das Reich der Pilze umfaßt sowohl die größten als auch die kleinsten Lebewesen. Ja, angesichts des riesigen Oregon-Pilzes einerseits und der mikro- skopisch kleinen Bakterien andererseits muß man sich fragen, ob hier tatsächlich schon ein Ende erreicht ist, ob nicht immer größere und immer kleinere Pilze entdeckt werden, die Pilze mithin sowohl im Makrobereich wie im Mikrobereich eine Art Unendlichkeit repräsentieren.

Einige Mykologen vertreten die Ansicht, es gebe überhaupt keine "kleinen" und "großen" Pilze, sondern es gäbe nur
einen einzigen erdumspannenden Superpilz, der identisch sei mit dem, was wir "Leben" nennen, und der über die Lebensspanne der einzelnen tierischen und pflanzlichen Bildungen entscheide. Die in der Luft herumfliegenden Bakterien seien keine Einzelwesen, sondern nur "Sporen", also Liebes- und Todeskeime dieses einen Pilzes namens "Gäa", den man auch "den größten aller Götter" nennen könne, Allah, Zeus, Herr der Welt, "The Empire", wie auch immer.

Dem entspräche die uralte Schamanenweisheit, daß Pilz-Essen immer "Gott essen" bedeute, mit Gott in eine intime und geheimnisvolle Beziehung treten. Die Gifte, die viele, wahrscheinlich die meisten Pilze enthielten, seien Warnschilder vor solch privilegiertem Göttermahl; sie töteten den Uneingeweihten, dem Eingeweihten hingegen, der sie richtig zu behandeln verstehe, verschafften sie ungeahnte geistige Abenteuer, priesterliche Enthüllungen, die auch dem gläubigen Volk als ganzem zugute kämen, es heilbringend mit dem Übersinnlichen verbindend.

Das ist natürlich pure Metaphysik. Aber etwas davon ist immerhin noch in den scheinbar banalsten Praktiken der modernen Ernährungsindustrie lebendig. Schimmelpilze sind üblicherweise Spender oder zumindest Indikatoren von Krankheit und Tod, doch fein und kenntnisreich behandelt dienen sie als Fermente edler Käseherstellung, und jeder echte Käsemeister fühlt sich zu einem Teil als Medizinmann und Geheimnisträger.

Die Pilzsammler im Herbst, die nichts weiter tun, als die Sporenträger, die "Fruchtkörper", des in der Erde lebenden Pilzes abzuschneiden, gehen klugerweise zur Pilzberatungsstelle, wo sie von Eingeweihten über ihre Funde aufgeklärt werden. Immer öfter mußten sie dabei in letzter Zeit erfahren, daß sämtliche Fruchtkörper
einer Region "strahlend" geworden waren und ihre Einnahme riskant sei. Das Empire schlug plötzlich zurück.

Vielleicht sollte man es künftig nur noch wie die Ameisen oder Termiten halten, die seit Millionen von Jahren erfahrene "Pilzgärtner" sind. Sie züchten sich ihre je eigenen Pilze, denen sie, bevor sie sie essen, ein gemütliches Bett bereiten. So läßt das Imperium offenbar mit sich reden.


 
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