© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/00 27. Oktober 2000

 
Verpönt, vergessen, verstummt
Deutsche Volkslieder: Ein überraschender Liederabend in Stuttgart
Ingrid Mousek

Gleich am Eingang empfängt den Besucher eine Stelltafel mit diversen Zitaten zum Thema Lied/Volkslied/Volk, darunter ein Interview mit Helmut Schmidt in der Süddeutschen Zeitung vom 6. Oktober. Die Passage "Jemand, der seine eigene Nation aufgibt, gibt sich à la longue über zwei, drei Generationen selber auf. Die Leute brauchen den Nationalstaat, sie brauchen eine nationale Identität" ist hervorgehoben.

Ein paar Meter weiter Fotos von Auftritten des insgesamt 27köpfigen Ensembles; Kongreßhallen der Region Stuttgart, Chemnitz, Auschwitz, Breslau, Kronstadt (sic!). Der Abend verspricht spannend zu werden.

"Sag mir, wo die Lieder sind", ist er überschrieben. 63 Lieder über Geburt, Liebe, Ehe, Familie, Beruf, Militär, Politik, Nation, Religion und Tod stehen auf dem Programm. Dazwischen unternimmt Anne Buschatz einen Streifzug durch sieben Jahrhunderte deutsche Geschichte und ihre Volkslieder. Ja, wo sind sie geblieben? Verdrängt durch automatische Musikwiedergabegeräte, mißbraucht für politische Zwecke, verkauft von der volkstümlichen Schlagerindustrie, zog sich das gesungene Lied in Nischen zurück und taucht allenfalls noch im Kinderzimmer oder im Männergesangsverein auf.

Dies zur Kenntnis zu nehmen, ist eins. Ein anderes – und nicht weniger eindrucksvoll – ist es jedoch, an sich selber zu erleben, wie das Dargebotene wirkt. "Im schönsten Wiesengrunde", "Am Brunnen vor dem Tore", "Der Mond ist aufgegangen": Ist es nicht irgendwie peinlich, solche Warmduscher-Lieder in aller Öffentlichkeit vorzutragen? Schließlich befindet man sich weder auf einem nostalgischen Heile-Welt-Unterhaltungsabend noch bei einem konspirativen Treffen Rechter/Nationaler an einem geheimgehaltenen Ort. Mit ihren klaren, warmen, gut harmonierenden Stimmen, ohne ein Gramm Schmalz, aber dennoch alles andere als trocken, bahnen die Künstler dem Zuhörer den Weg sogar zu solch sensiblen Liedern. Und plötzlich läuft Gänsehaut über den Rücken.

Schwungvoll, federleicht hüpfend, locker, augenzwinkernd kommen viele der dargebotenen Weisen daher. Doch da ist noch ein zweiter Themenkomplex, der unter die Haut geht: der nationale. Beispiel Nationalhymne: Bei sportlichen Großveranstaltungen wird sie abgespult und bei Staatsempfängen, und wenn irgendwo die erste Strophe gesungen wird, gibt‘s Zoff. So hat es sich eingebürgert. In den historischen Zusammenhang gestellt als Ausdruck des Strebens nach Freiheit und Einheit für Deutschland und a capella ohne technische Verstärker vorgetragen, löst sich jedoch mit einem Mal aller Unrat auf, der sich auf dem Lied der Deutschen abgelagert hat, und der Blick wird frei für das Eigentliche. Worin dieses Eigentliche besteht? Wer neugierig geworden ist, kann es selber erleben.

Weitere Aufführungen finden statt am 3., 4., 15. und 16. November im Wortkino, der Bühne von "Dein Theater", Werastr. 6, 70182 Stuttgart.


 
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