© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/00 03. November 2000

 
"Öffnung für demokratische Rechte"
Niedersachsen: Junge Union veranstaltete Anti-68er-Kongreß trotz massiver linker Proteste / CDU-Abgeordneter für positives nationales Selbstverständnis
Christian Vollradt

Die Bekämpfung eines Gegners schließt nicht die Übernahme eines Teils seiner Methoden aus; das kann durch den offensichtlichen Erfolg dieser Methoden motiviert oder mit Ironie hinterlegt sein. Beides mag die niedersächsische Junge Union (JU) bewegt haben, am vergangenen Wochenende in Göttingen ihren zweiten Anti-68er-Kongreß ("30 Jahre danach: Die 68er-Protestbewegung und ihre Folgen) auszurichten.

Aus der Unionsprominenz nahmen der saarländische Ministerpräsident Peter Müller, der CDU-Bundesvize und niedersächsische Oppositionsführer Christian Wulff, der ehemalige sächsische Staatsminister und heutige Bundestagsabgeordnete Arnold Vaatz sowie dessen Fraktionskollegen Martin Hohmann und Manfred Grund als Redner teil. Während der in der Gauck-Behörde arbeitende Historiker Hubertus Knabe in seinem Vortrag "Die Stasi und ihr Einfluß auf die 68er Bewegung" wissenschaftlich aufklärte, hatte man mit Klaus-Rainer Röhl ("Political correctness als Folge der 68er-Bewegung") einen Zeitzeugen und ehemalige Protagonisten für den polemischen Part aufgeboten. Der JU gelang auch die öffentlichkeitswirksame Provokation.

Die gereizte Gegenreaktion äußerte sich in Form eines vielstimmigen Protests, gebündelt in einem Offenen Brief des Göttinger DGB-Vorsitzenden Wertmüller. Mit einer Einladung von Klaus-Rainer Röhl und Uwe Greve seien zwei "Publizisten der rechtsextremen Szene" auf dem Podium; an die CDU erging die Forderung, diese auszuladen, um ihnen nicht den "Ruf von Anständigkeit und gesellschaftlicher Bedeutung" zu erteilen. Ausgeladen wurde niemand, der innerparteiliche CDU-Kritiker Greve mußte seine Teilnahme jedoch wegen einer schweren Grippe kurzfristig absagen.

Am Samstagmorgen begann dann unter Polizeischutz die JU-Veranstaltung, begleitet von etwa 50 demonstrierenden "Antifas". Offensichtlich hat der DGB-Kreisleiter seiner Sache einen Bärendienst erwiesen. Nicht allein daß zahlenmäßig die Demonstranten ein für Göttinger Verhältnisse armseliges Bild boten und mehr den samstäglichen Einkaufsverkehr als die Veranstaltung störten; in einem für die Union geradezu untypischen Burggeist zog sich die Empörung über die Diffamierungen gegen Röhl und Greve durch alle Redebeiträge.

Der JU-Landesvorstand hatte flankierend zu den Vorträgen ein Thesenpapier mit dem Titel "Zehn Jahre Deutsche Einheit – Impulse für ein zukunftsweisendes Geschichts- und Gemeinschaftsverständnis" zur Beschlußfassung vorgelegt. Neben der Würdigung der Leistungen Helmut Kohls im Verlauf der deutschen Wiedervereinigung wird das deutschlandpolitische Versagen der jetzigen Regierungsrepräsentanten in den achtziger Jahren angeprangert.

Mit der Notwendigkeit einer verstärkten Aufarbeitung der roten Diktatur befassen sich die Autoren in einem ganzen Kapitel. Verharmlosenden Tendenzen, die sich an einer Hofierung der SED-Nachfolger durch die Sozialdemokraten ablesen lassen, soll die Union verstärkt entgegentreten; weiterer Aufklärungsbedarf wird bezüglich der Stasi-Infiltration der westlichen DDR-Schönfärber angemahnt.

Mit ihrem Plädoyer für einen "aufgeklärten Patriotismus" schießen die beiden Autoren des JU-Papiers eine Breitseite gegen die Nationsvergessenheit der Linken: die Nation sei und bleibe als Schicksals- und Schutzgemeinschaft ein Garant für die Stabilität in Europa. Zu ihr sei ein positives emotionales Verhältnis zu fördern als Voraussetzung für die Verteidigung der Freiheit. Dem in der aktuellen Debatte – auch von CDU-Politikern – wieder verstärkt ins Feld geführten Begriff des "Verfassungspatriotismus" erteilt das Papier eine klare Absage.

Mit ihrer Forderung nach einer an den nationalstaatlichen Gegebenheiten und Bedürfnissen ausgerichteten Realpolitik haben die Verfasser aber einen Text vorgelegt, der sich wohltuend vom typischen Unionsgeschwafel abhebt. Mit überwältigender Mehrheit wurde das Papier ohne entschärfende Änderungen angenommen.

Spätestens seit dem rot-grünen Wahlsieg im Herbst 1998 seien die 68er die herrschende Generation in Deutschland, so Gerold Papsch in seiner Einleitung am Samstagvormittag vor rund 100 Teilnehmern. Sich mit ihr kritisch auseinanderzusetzen hält er für eine wesentliche Aufgabe des Unionsnachwuchses.

Vor dem ersten Vortrag begründete der Göttinger JU-Vize Andreas Schwegel, die Dringlichkeit einer klärenden Lageanalyse: Die CDU stecke nicht nur in eine personellen, sondern auch in eine schweren inhaltlichen Krise, die zu einem immer weitergehenden Einflußverlust des bürgerlich-konservativen Lagers führe. Keinen "Rechtsruck", so Schwegel, aber die Öffnung der CDU für die demokratische Rechte fordere er. Mit Blick auf die erfolgreichere Schwesterpartei in Bayern spricht der Vorstand von einer "bodenständigen CDU, einer Niedersachsen-Partei".

Passend dazu begannen den Vortragreigen die CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann und Arnold Vaatz mit "Thesen zur Erneuerung der Union".

Hohmann griff die im JU-Papier enthaltene Forderung nach einem positiven nationalen Selbstverständnis auf und forderte das Ende der "Canossa-Republik". Die moralisierende Vergangenheitsbewältigung sei zu einem Herrschaftsinstrument zur Niederhaltung des innenpolitischen Gegners perfektioniert worden. Bei einigen Zuhörern regte sich Unwillen gegen den von Hohmann freimütig ausgegebenen Gleichklang "wir sind Demokraten, wir sind rechts".

Seinen Unmut über die Beteiligung der CDU an der Demonstration "gegen Rechts" am 9. November in Berlin – gemeinsam mit der PDS – äußerte Hohmann gegenüber der JUNGEN FREIHEIT drastisch: "Beschissen" findet er dieses "disparate Signal" an die konservative Anhängerschaft. "Mit den Feinden von gestern und heute gemeinsam zu marschieren, ist eine Entscheidung, die uns nicht helfen wird." Sein Kollege Vaatz ergänzte anschließend, er könne nur einer Demonstration zustimmen, die sich gegen jeglichen Extremismus richte.

Der sächsische Bundestagsabgeordnete betonte in seinem Referat, ein verdrehtes Wertbewußtsein herrsche in Deutschland nicht nur wegen der 68er, sondern auch wegen der nach zehn Jahren deutscher Einheit noch nicht vollständig überwundenen Nachwirkungen der SED-Ideologie in Mitteldeutschland. Aus Opportunismus habe auch die CDU dagegen zu wenig angekämpft, kritisierte Vaatz.

Den meisten Presserummel an diesem Nachmittag rief dann Röhls Vortrag hervor. Er nutzte die Gelegenheit, sich noch einmal des Rechtsextremismus-Vorwurfs zu erwehren genauso häufig, wie die, seine Bücher anzupreisen. Mit Polemik angereichert, schilderte er den erfolgreichen Marsch durch die Institutionen insbesondere im Bereich der Medien und Presse und ätzte gegen die ehemaligen Genossen, gegen "Gedankenpolizei" und "Blockwartsystem". Der Erfolg des Marsches liege jedoch nicht so sehr in der klugen Planung seiner Verfechter, sondern in der mangelhaften Gegenwehr der damaligen Herrschenden, der "Schlappheit der Bürgerlichen". Mit der "Herrschaft der Sprache" als verdeckter Waffe kämpften nun die PC-Apologeten gegen das mißtrauisch beargwöhnte Volk.

Nüchterner legte Hubertus Knabe dem Plenum die Unterwanderung der Studentenbewegung durch die DDR-Staatssicherheit dar. Insbesondere bei den Aktionen gegen Lübke und Springer habe die Stasi eine führende Rolle gespielt, am Beispiel der linken Zeitung Extra-Dienst veranschaulichte der Gauck-Mitarbeiter seine Thesen. Mit Blick auf den anwesenden Röhl sprach Knabe von "geheimen SED-Kadern" in der Studentenschaft. Röhls Versicherung, er habe zwar mit der FDJ, nicht aber mit dem MfS zusammengearbeitet, entgegnete Knabe mit dem Hinweis, diese Unterscheidung könne Röhl für sich beanspruchen, die DDR-Oberen hätten sie jedoch nicht gemacht. Als schweres Erbe für die innere Einheit bezeichnete Knabe die ungleiche Behandlung der Stasi-Spitzel in Ost und West: Nur ein Bruchteil der etwa 20.000 bis 30.000 Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) im Westen könne noch strafrechtlich verfolgt werden.

Am Sonntag erhielt der saarländische Ministerpräsident Peter Müller großen Beifall nach seinem mit Verve dargebotenen Vortrag. Die Union müsse sich verstärkt für den Vorrang der Freiheit gegenüber der Gleichheit einsetzen, Leistungsbereitschaft und Elitenbildung fördern sowie der Vereinbarkeit von ökonomischer Effizienz und sozialer Absicherung zum Durchbruch verhelfen. Mit Blick auf eine seiner Meinung nach durch demographische Umstände erforderliche Zuwanderungsregelung betonte Müller, wer hier dauerhaft leben wolle, müsse das Grundgesetz und die darin enthaltene Werteordnung verinnerlichen. Damit plädierte er – unwidersprochen – für eben jenen "Verfassungspatriotismus", den die Junge Union im Thesenpapier ablehnt.

In der anschließenden Podiumsdiskussion über ein Geschichts- und Gemeinschaftsbewußtsein wurde die Frage "Was ist deutsch?" zwar häufig gestellt, aber nie beantwortet. Deutlicher konnte die eigene Betroffenheit von den 1968 erfolgten ideenpolitischenVerheerungen nicht sichtbar gemacht werden.

Christian Wulff wiederholte zum Abschluß des Kongresses seine Thesen von der Notwendigkeit einer 98er-Bewegung. Eine Abkehr von der 68er-Generation und ihrer strukturellen Verharrung bedeute, Probleme lösen und nicht lediglich diskutieren zu wollen, eine höhere Wertschätzung von Erziehung und die Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen den Freiheiten und Pflichten gegenüber dem Staat. Durch welche Gemeinschaftskultur diese 98er-Bewegung zusammengeschweißt werden solle, verriet Wulff nicht; über ein Plädoyer zum Pragmatismus á la "Generation Golf" kamen seine Ausführungen nicht hinaus. Um so deutlicher wies Wulff den von Gerold Papsch erhobenen Vorwurf der "Sozialdemokratisierung der Union" zurück, den er – sicherlich nicht ganz zu Unrecht – auch als gegen seine Person gerichtet auffaßte.

Der Landesvorsitzende Gerold Papsch wird sich in nächster Zeit nach einem nicht gerade wohlwollenden Presseecho innerparteilich einiges anhören müssen, sowohl aus dem liberalen Lager als auch von seinem eigenen Flügel, den Pragmatikern. Während sein Stellvertreter Schwegel eine Verortung rechts der Mitte nie zu verhehlen brauchte, wird von Papsch verlangt, die liberaleren Emsländer und Osnabrücker zu integrieren. An seinem zukünftigen Verhalten kann ersichtlich werden, ob das "Aufmischen der Union", das verlangte Eingehen auf die konservative, nach mehr Profil süchtige Anhängerschaft der Union, inhaltlichen Überzeugungen entspringt oder nur ein kurzes, wahltaktisch bestimmtes Intermezzo war. Gilt ersteres, so kann er einen populären Verbündeten für sich ins Feld führen: Der eine Woche vor dem JU-Kongreß während des Göttinger Literaturherbstes mit großem Applaus bedachte französische Star-Schriftsteller Michel Houellebecq antwortete kürzlich in einem Interview auf die Frage, ob wir denn den 68ern etwas zu verdanken hätten: "Da fällt mir nichts ein."


 
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