© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/00 03. November 2000

 
Biblischer Zorn im Heiligen Land
Naher Osten: Seit Wochen tobt zwischen Palästinensern und Israelis ein blutiger Konflikt
Michael Wiesberg

Wenn Bundeskanzler Gerhard Schröder dieser Tage den Nahen Osten besucht, dann nimmt er nach den Worten seines außenpolitischen Beraters im Kanzleramt, Michael Steiner, ausschließlich "politische Verantwortung" wahr. Im ARD-Morgenmagazin vom 27. Oktober betonte Steiner, daß Deutschland diese Krisen-Region nicht im Stich lassen dürfe. Deutschland dürfe, so Steiner weiter, in dem Nahostkonflikt keine Vermittlerrolle übernehmen.

Allerdings werde Schröder betonen, daß er zum Friedensprozeß und zur Rückkehr an den Verhandlungstisch keine Alternative sehe. Schröder ist also vorrangig in den Nahen Osten gereist, um Hände zu schütteln und Präsenz zu zeigen. Mehr will sich der Bundeskanzler nicht zugestehen. Mit dieser Rolle wollen sich aber weder Israelis noch Araber zufriedengeben. Israels Ministerpräsident Ehud Barak hat Schröder bereits aufgefordert, seinen Einfluß auf Palästinenserchef Yassir Arafat zu nutzen, damit dieser die Gewalt einstelle. Ob Schröder seinem Anspruch, weder "parteiisch" zu sein noch "Verurteilungen" auszusprechen, vor diesem Hintergrund gerecht werden kann,wird sich zeigen müssen.

Überhaupt ist zu fragen, welchen Sinn eine Reise ergeben soll, deren einzige Botschaft sich in der Aufforderung erschöpft, daß die Konfliktparteien doch bitte schön an den Verhandlungstisch zurückzukehren hätten. Anzusprechen gäbe es aus Sicht des Bundeskanzlers vieles – gerade auch im Hinblick auf die Israelis, die sich dieser Tage einmal mehr bemühen, die ganze Schuld für den ins Stocken geratenen Friedensprozeß den Palästinensern zuzuschieben. Dieser Versuch mag aus Sicht der Israelis politisch zwar opportun erscheinen, verdeckt aber einmal mehr die bis heute ungelösten Konflikte, die zu einem erneuten Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen Israelis und Palästinensern geführt haben.

Zwar hat Israel seit dem Abkommen von Camp David (1978) Zugeständnisse gemacht, die in Israel lange Zeit kaum jemand für möglich gehalten hätte. In diesem Zusammenhang müssen insbesonders der in Oslo in Gang gekommene Friedensprozeß zwischen Palästinenserführer Yassir Arafat und der am 4. November 1995 von einem jüdischen Fanatiker ermordete israelische Ministerpräsident Yitzhak Rabin genannt werden. Im Zuge der in Oslo geführten Verhandlungen anerkannte Israel die PLO und die PLO das Existenzrecht Israels. Vereinbart wurde weiter eine palästinensische Autonomie, die in eine Staatsgründung übergehen kann. Bis heute ist es aber weder zu einer palästinensischen Staatsgründung gekommen noch zu einer Rückkehr zu den Grenzen von 1967, dem erklärten Ziel der Palästinenser.

Den palästinensischen Vorstellungen im Hinblick auf Ostjerusalem, die Al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg (Haram el-Sharif), die Souveränität Palästinas, die israelische Militärpräsenz in der West Bank und im Gaza-Streifen und die Frage der israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten ist bisher von Israel bestenfalls ansatzweise entsprochen worden. Selbst wenn es jetzt zu einer Einigung kommen sollte, dürften diese Konflikte weiter gären. Große Teile der West Bank dürften aller Voraussicht nach durch Israel besetzt bleiben. Weitergehen dürfte auch der Versuch, durch Kauf von immer mehr Häusern in der palästinensisch dominierten Altstadt von Jerusalem den Anteil der jüdischen Bevölkerung in Jerusalem zu steigern, um auf diese Weise Anspruch auf ganz Jerusalem erheben zu können. Daß diese Politik den Konflikt mit den Palästinensern, die Altjerusalem zu ihrer Hauptstadt erklären wollen, erheblich verschärft, muß nicht mehr eigens kommentiert werden. Arafat, der unter den Palästinensern nicht unumstritten ist, kann in dieser Frage keine Zugeständnisse mehr machen, will er seine eigene Position nicht gefährden. Deshalb kommt seine jüngste Ankündigung, daß der derzeitige Aufstand solange weitergehe, bis die palästinensische Flagge über Jerusalem wehe, auch nicht überraschend.

Palästinenser leiden unter ökonomischen Bedingungen

Ganz gleich aber, auf welche Kompromißformeln sich Israelis und Palästinenser nach Ende des derzeitigen Konfliktes einigen werden: Kein denkbarer Friedensvertrag wird den ökonomischen und politischen Erwartungen der jungen Palästinenser gerecht werden können, die bereits die Intifada im Dezember 1987 auslösten und auch jetzt Hauptträger des palästinensischen Unmuts sind. Es wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch nach einer Einigung zu Gewaltausbrüchen kommen, weil sich die ökonomische und die demographische Entwicklung in der West Bank und im Gaza-Streifen, den palästinensischen Autonomiegebieten, mehr und mehr zu einer Zeitbombe entwickelt, die den ganzen Nahen Osten in ein Schlachtfeld verwandeln könnte.

Um zunächst die ökonomische Situation der West Bank anzusprechen: Derzeit beträgt das Bruttosozialprodukt der West Bank gerade einmal 3,3 Milliarden Dollar. Das Pro-Kopf-Einkommen in der West-Bank liegt bei 2.050 Dollar, im Gaza-Streifen bei etwa der Hälfte. Zum Vergleich: Das Pro-Kopf-Einkommen eines Israelis liegt bei 18.300 Dollar. Vor dem Ausbruch der Unruhen im September dieses Jahres lag die Arbeitslosenquote in den Autonomiegebieten bei offiziell 15 Prozent. Diese Zahl dürfte aber erheblich zu niedrig angesetzt sein, weil viele Beschäftigungsverhältnisse sehr unstet sind und viele palästinensische Jugendliche selbst dann, wenn sie auf Arbeitsplatzsuche sind, nicht erfaßt werden. Experten gehen deshalb von einer tatsächlichen Arbeitslosenquote von 25 bis 30 Prozent aus. Etwa 120.000 Palästinenser, die sich in den von Israel besetzten Gebieten als billige Arbeitskräfte verdingen müssen, sind darüber hinaus direkt von israelischen Vergeltungs- oder Repressionsmaßnahmen betroffen. Von diesen haben nur etwa 60.000 Palästinenser eine Arbeitserlaubnis, der Rest arbeitet illegal.

Ähnlich wie im Gaza-Streifen unterliegt die Kontrolle von Gas und Strom fast ausschließlich den Israelis. Der größte Teil des benötigten Stroms muß aus Israel importiert werden. Israel hat also die Möglichkeit, sowohl die Strom- als auch die Wasserversorgung nach eigenem Dafürhalten zu unterbrechen. Doch nicht nur das: Auch die Kommunikationswege in der West Bank oder im Gaza-Streifen können, wenn es Israel für notwendig hält, beeinträchtigt werden.

Einen wesentlichen Aspekt des derzeitigen Konfliktes stellt die ständige Ausweitung israelischer Siedlungen in der West Bank dar. Das Bevölkerungswachstum sowohl der Palästinenser als auch der Israelis hat zur Folge, daß beide Völker immer näher "aneinandergeraten". Mehr als ein Dutzend neue israelische Siedlungen sind nach dem Abkommen von Wye im Jahre 1998 in der West Bank errichtet worden, obwohl der frühere Ministerpräsident Netanjahu US-Präsident Clinton versprochen hatte, die Expansionspolitik in Richtung palästinensische Autonomiegebiete zu beenden.

Israelis wollen sich nicht vollständig zurückziehen

Barak hat zwar ebenfalls eine Einschränkung der Siedlungspolitik in Aussicht gestellt, ohne aber die Zusage zu machen, die Errichtung immer neuer Siedlungen in der West Bank ganz einzustellen. Zwar stoppte Barak im Juli 1999 die Finanzierung für die Errichtung neuer Unternehmen in der West Bank und im Gaza-Streifen. Gleichzeitig besteht er darauf, daß der Großteil der bisher errichteten Siedlungen auch nach dem Ende erfolgreicher Verhandlungen unter israelischer Verwaltung bleiben.

Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist, daß der unablässige demographische Druck, den Israel ausübt, zwangsläufig zu Gegenreaktionen der Palästinenser führen muß. Diese Entwicklung hat zum einen die Möglichkeit einer zweiten Intifada erheblich steigen lassen und zum anderen die von den Palästinensern anvisierte militärische, politische und ökonomische Trennung beider Völker erheblich erschwert. Ob es die Israelis wahrhaben wollen oder nicht: Die Zukunft kann nicht darin bestehen, daß jeder Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern mit einer Abriegelung der West Bank durch Israel beantwortet wird. Genau dies scheint aber die ultima ratio israelischer Politik gegenüber den Palästinensern zu sein.

Nach wie vor macht Israel aufgrund der jüdischen Siedlungen in der West Bank keine Anstalten, einen Rückzug aus den palästinensischen Autonomiegebieten ins Werk zu setzen. Und nach wie vor versucht Israel, die Kontrolle über Jerusalem zu behalten. Für eine derartige Haltung gibt es sicherlich politische Gründe. Israel glaubt, einen Teil seiner strategischen Optionen einzubüßen, wenn es sich aus den besetzten Gebieten vollständig zurückzöge.

Dennoch soll von israelischer Seite ein derartiger Plan ins Auge gefaßt worden sein, falls die Auseinandersetzungen mit den Palästinensern anhalten sollten. Dieser Plan könnte nach Angaben der New York Times vom 22. Oktober Ende Oktober dieses Jahres in Kraft treten. Im Mittelpunkt dieses Planes stehen Maßnahmen, die im Falle eines völligen Scheiterns der Friedensgespräche von Israel zu ergreifen wären. Diese Maßnahmen sollen dann in Kraft treten, wenn sich entweder die Unruhen in Richtung kriegsähnliche Handlungen entwickeln sollten oder einseitig ein Palästinenserstaat unter kriegsähnlichen Bedingungen proklamiert würde. Letzterer Fall würde aus israelischer Sicht einmal zu einem sofortigen Stopp der Pendelströme zwischen Israel und den Autonomiegebieten führen. Zum anderen soll auch die Umsiedlung einiger weit vorgeschobener Siedlungsgebiete geplant sein. Außerdem sollen die verbliebenen Siedlungsgebiete annektiert und mit militärischen Mitteln geschützt werden.

Darüber hinaus wird im israelischen Finanzministerium daran gearbeitet, zu ermitteln, welche Konsequenzen eine spürbare Reduktion palästinensischer Land- und Bauarbeiter für Israel nach sich ziehen würde. Sollte ein derartiger Plan in Kraft treten, müßte mit erheblichen Folgen für den ganzen Nahen Osten gerechnet werden. Denn Ägypten, Syrien, Jordanien, der Iran und nicht zuletzt die Hisbollah dürften der Eskalation in Gaza und der West Bank nicht regelungslos zuschauen. Natürlich sind sich die arabischen Staaten bewußt, daß Israel eine konventionelle militärische Überlegenheit besitzt und darüber hinaus über Atomwaffen verfügt. Dennoch könnte eine sich lang hinziehende zweite Intifada den Frieden Israels mit Ägypten und Jordanien erheblich beeinträchtigen und die Annäherungen an Syrien zum Erliegen bringen. Mit Sicherheit muß aber damit gerechnet werden, daß die am Iran ausgerichteten islamischen Extremisten des Islamischen Dschjihad und der Hamas ihre Aktivitäten beträchtlich ausweiten.

Außerdem muß damit gerechnet werden, daß palästinensische Extremisten bei einem langanhaltenden Konflikt mit Israel versuchen werden, den einen oder anderen arabischen Staat in den Konflikt mit hineinzuziehen.

Hamas-Kämpfer erhalten Unterstützung aus dem Iran

Der Islamische Dschjihad und die Hamas versuchen bereits seit geraumer Zeit, den Einfluß der PLO zu untergraben. Dieses Ziel transzendiert sogar die religiösen bzw. ideologischen Unterschiede zwischen der sunnitischen Hamas und dem schiitischen Iran. Der hohe Stellenwert der Hamas im Iran zeigt sich unter anderem an der Bedeutung, der den Hamas-"Offiziellen" im Iran zugemessen wird. Diese schlägt sich nicht nur in der politischen Unterstützung der Hamas durch den Iran, sondern auch in deren militärischer Unterstützung nieder. Darüber berichtete unter anderen das in Israel ansässige "International Policy Institute for Counter-Terrorism" in dem Beitrag "Iran and Terrorism" (Oktober 1999). Die Aktivisten der Hamas würden in Ausbildungslagern in Libanon oder dem Iran auf ihre Aufgaben vorbereitet. Zum Ausbildungskanon gehörten ausdrücklich auch Selbstmord-Attacken.

Diese nur grob angerissenen Implikationen zeigen, wie schwierig ein stabiler Frieden im Nahen Osten zu realisieren sein wird. Schon gar nicht ist dem Friedensprozeß mit einseitigen Schuldzuweisungen gedient, wie sie insbesondere in Deutschland in den Medien immer wieder unkritisch im Hinblick auf die Palästinenser kolportiert werden. Es wird viel Fingerspitzengefühl vonnöten sein, wenn die Extremisten auf beiden Seiten nicht die Oberhand gewinnen sollen.


 
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