© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/00 03. November 2000

 
Grundlage einer EU-Verfassung?
Zur Europäischen Grundrechts-Charta: Rechtswissenschaftliche Kommentare dämpfen bundesdeutsche Euphorie
Sybille Mengden

Debatten über "Europa" enden zwischen Bundestagsabgeordneten in der Regel mit jenem Maß an Übereinstimmung, das an die blockparteiliche Geschlossenheit in der DDR-Volkskammer erinnert. Diese von der PDS bis zur CSU demonstrierte Eintracht herrschte darum Mitte Oktober einmal mehr, als es im Vorfeld des EU-Gipfeltreffens in Biarritz darum ging, die Verankerung der Grundrechte-Charta im europäischen Vertragswerk zu beschwören. Ungeachtet bundesdeutscher Deklamationen dürfte dies auf der für Anfang Dezember anberaumten Ratstagung in Nizza aber ohnehin geschehen. Doch immerhin lenkten diese europapolitischen Treueschwüre die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Bedeutung jener Grundrechts-Charta, die von einem europäischen Konvent unter dem Vorsitz des Alt-Bundespräsidenten Roman Herzog erarbeitet wurde und die Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) im Bundestag verzückt als "Grundlage einer europäische Verfassung" feierte.

Erleben wir in Nizza also demnächst die Proklamation einer EU-Verfassung und die Ausrufung des europäischen Bundesstaates? Wohl kaum. In dieser Einschätzung fühlt sich zumindest bestärkt, wer sich einmal die Mühe macht, die nüchterne rechtswissenschaftliche Kommentierung der vom Charta-Text inspirierten europapolitischen "Wertegemeinschafts"- und "Menschenrechts"-Rhetorik und der sie begleitenden – allen, offenbar allein der deutschen ("Leit"-) Kultur" vorbehaltenen Skeptizismus hinter sich lassenden – Schwärmerei für ein "europäisches Menschenbild" (Peter Altmaier, CDU), eine "europäische Identität" (Jürgen Meyer, SPD) oder das "christlich-abendländische Erbe" (Norbert Geis, CSU) genauer zu studieren.

Provokant fragt Jean-Claude Piris (Brüssel) darum in der Zeitschrift Europarecht (35. Jahrgang, Heft 3/00): "Hat die Europäische Union eine Verfassung? Braucht sie eine?" Antwort: Sie hat eine, wenn auch eine durchaus "eigenartig" überstaatliche. Nämlich jene völkerrechtlichen Verträge von Rom, Maastricht und Amsterdam, die die Grundlage der Europäischen Gemeinschaft darstellen. Also braucht sie keine? Doch, soweit die Verfassung das Grundgesetz einer Nation oder eines Staates ist, denn die EU ist nun einmal kein Staat. Zwar gehen die Gründungsverträge der EU über klassische völkerrechtliche Verträge weit hinaus und enthalten einige wichtige Bestandteile, die in Rechtswörterbüchern bei der Definition des Begriffs Verfassung verwendet werden. So zum Beispiel die ausschließliche legislative und exekutive Zuständigkeit in der Handels- und Währungspolitik, in der Landwirtschaft und Fischerei. Wichtiger ist jedoch, daß sich die Mitgliedstaaten in den EU-Gründungsverträgen auf die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der Menschenrechte verpflichtet haben.

Aber diese Bestandteile konstituieren noch keinen "EU-Staat". Die Union ist nach Piris vielmehr weit davon entfernt, über Mittel und Aktionsmöglichkeiten zu verfügen, deren es für einen kompletten Staatsapparat bedarf. Noch gebieten die Mitgliedstaaten über sämtliche Attribute eines Staatswesens: Regierung, Armee, Verwaltung, Polizei, Jurisdiktion. Insoweit ist die EU, allen Kompetenzverlagerungen, allen handelsrechtlichen und agrarpolitischen Zentralisierungen zum Trotz, immer noch eine – vom Brüsseler Regulierungsfuror freilich hart getroffene und kontrollierte – Freihandelszone und ein Binnenmarkt, für den mit der Wirtschafts- und Währungsunion allerdings schon bundesstaatliche Weichen gestellt wurden.

Piris sieht darum vier Ansatzpunkte, um jetzt die Grundverträge der EU in eine staatentypische Verfassung zu transformieren: Die Fixierung einer klareren Gewaltenteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten, die Organisation einer EU-Regierung, die volle Souveränität im Bereich der Außenbeziehungen und die Annahme einer EU-Verfassung unmittelbar durch die Völker der Union.

Gewiß zur Beruhigung vieler Brüssel-Gegner muß Piris jedoch nach eingehender Prüfung dieser vier Optionen konstatieren, daß hier alles andere als Einbahnstraßen in Richtung Bundesstaat eröffnet werden. Was die Gewaltenteilung angeht, so hat gerade der Maastrichter Vertrag auf den Sektoren Bildung, berufliche Bildung, Kultur und Gesundheit jegliche Harmonisierung der nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften untersagt. Angesichts der Wettbewerbsverzerrungen, die dadurch auf dem Binnenmarkt entstehen, ist es der EU aber erlaubt, Vorschriften zu erlassen, die sich auf den Bereich von Gesundheit und Kultur "auswirken". Solche anerkannten "impliziten Befugnisse" schaffen aber gerade keine klarere Gewaltenteilung, sondern verwischen die Kompetenzaufteilung zwischen "Zentrale" und Mitgliedstaaten; ein Prozeß, der sich vor der eingeforderten "Wahrung der regionalen Vorrechte" noch fortsetzen und schwerlich aus den etwa aus der deutschen Bund-Länder-Konkurrenz hinlänglich bekannten Problemen hinausführen wird. So resümiert Piris: Selbst wenn man zu einer präziseren Fixierung der EU-Zuständigkeiten käme, sei keineswegs sicher, "daß es möglich (oder auch nur wünschenswert) wäre, die derzeitige Lage einschneidend zu ändern".

Noch steinigeres Terrain betritt man bei der Sondierung nach den Chancen für die "Organisation einer EU-Regierung". Da keine nationale Regierung der Brüsseler Kommission mehr exekutive Befugnisse im Bereich der Wirtschafts- und Währungsunion, der polizeilichen Zusammenarbeit und der Außenpolitik konzedieren will, würde eine derartige Machtdelegation den "politischen Realitäten nicht entsprechen". Was dann die "Souveränität im Bereich der Außenbeziehungen" angeht, vermag Piris, abgesehen von einigen dem Kosovo-Krieg geschuldeten "Fortschritten in Richtung auf eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik", auch hier kaum Bereitschaft zu nationalem Souveränitätsverzicht erkennen. Schwerlich ist auf dieser Basis – und dies muß man bei der Grundrechts-Charta im Auge behalten – die Zeit reif für eine EU-Verfassung, die von einer verfassungsgebenden Versammlung ausgearbeitet und in einem europaweiten Referendum den Völkern der Mitgliedstaaten zur Abstimmung vorgelegt werden müßte. Zumal, so Piris, es zweifelhaft erscheine, ob dies große Begeisterung auslösen würde. Schließlich betrachten sich die Mitgliedstaaten als die "Herren der Verträge", und die meisten von ihnen hätten nicht die Absicht, diese Zuständigkeit zugunsten eines neuen Souveräns des "europäischen Volkes" abzugeben!

Gemessen an den vier Kriterien, die nach Piris erfüllt sein müßten, damit eine mögliche EU-Verfassung als der Verfassung eines Staates vergleichbar angesehen werden könnte, scheine es keine Chance zu geben, aber eigentlich auch kein Bedarf dafür zu bestehen, um das konstitutive Vertragsystem der EU in eine Verfassungsurkunde umzuschreiben. Die in Nizza beabsichtigte feierliche Proklamation einer Grundrechtscharta als Kern einer solchen Verfassung hätte darum allenfalls deklamatorisch-politische Bedeutung, die sogar insoweit "sinnlos" wäre, wie ihr Inhalt sich nicht von dem Katalog der 1953 in Kraft getretenen Europäischen Menschenrechtskonvention unterschiede. Denn in Sachen "Menschenrechte" dürfte das EU-Plansoll schon seit langem erfüllt sein. Piris stellt nicht nur auf die Menschenrechtskonvention ab; er verweist auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und darauf, daß es im Maastrichter Vertrag (Artikel 6 Absatz 2) ausdrücklich heißt: "Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichnteten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben." Die neue Charta, die nochmals die gemeinsamen Werte der EU-Mitgliedstaaten auflistet und die Rechte der Unionsbürger aufzählt, bietet im Vergleich mit diesen Kodifizierungen fast nur Wiederholungen. Kein Wunder, wenn jetzt die Vertreter Großbritanniens und Irlands auf einer der Charta gewidmeten Tagung der Europäischen Rechtsakademie erklärten: "Die Einhaltung der Grundrechte werde von den nationalen Gerichten gewährleistet und ergänzend durch den Europäischen Gerichtshof in Straßburg sichergestellt; das genüge." (laut FAZ vom 30. 10.)

"Die EU", so schlußfolgert Piris deshalb, "hat keine und benötigt auch keine staatentypische Verfassung, ganz einfach weil sie kein Staat ist. Sie bezieht ihre Befugnisse von ihren Mitgliedern und nicht unmittelbar von ihren Völkern. Die Union hat nicht das Ziel, die in ihr zusammengeschlossenen Nationalstaaten abzuschaffen, um einen europäischen Nationalstaat zu schaffen. Im Gegenteil: Im Amsterdamer Vertrag ist die Verpflichtung der EU verankert, ‘die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten zu achten‘."


 
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