© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/00 03. November 2000

 
Das Land mit den zwei Gesichtern
von Angelika Willig

Ob Friedrich Merz mal was von Norman Mailer gelesen hat? Wahrscheinlich nicht. Bestimmt nicht das Interview im letzten Spiegel. Da erklärt der große alte Mann der amerikanischen Literatur, was er unter "deutscher Leitkultur" versteht, nämlich vor allem Richard Wagner. Zum ersten Mal auf Besuch in Deutschland, führt ihn sein erster Weg nach Bayreuth, um sich dort den "fundamentalen Konflikt zwischen Göttern und Menschen" anzusehen. Nicht nur wegen Wagner bezeichnet der Amerikaner die deutsche Kultur als "profundeste Kultur der westlichen Welt".

Friedrich Merz kann sich unter "deutsch" nur noch das Grundgesetz vorstellen mit besonderer Berücksichtigung der "Würde des Einzelnen", der "Toleranz" und der "Gleichberechtigung der Frau". Seine "Leitkultur" ist nichts anderes als eine CDU-Version des von Habermas verordneten Verfassungspatriotismus. Einwanderer, die hierher kommen, sollen sich unseren demokratischen Gepflogenheiten anpassen, sonst stören sie die offene Gesellschaft beim Geldverdienen und Geldausgeben. Die Konservativen, die sich jetzt standhaft um Merz scharen, wollen keine Ausländer, die ungeschriebene Gesetze, archaische Sitten und autoritäre Verhaltensweisen mitbringen. Die ihre Kinder schlagen und ihre Frauen einsperren, das Eigentum nicht achten, während der Arbeitszeit beten und sich ihr Essen selber mitbringen. Das ist auch keine Frage der Rasse, sondern eine Frage des guten Willens und der pädagogischen Programme. Nichts hindert die Einwanderer im Prinzip daran, sich genauso zu verhalten wie wir, den Kindern einen Schlüssel zugeben, sich fit und schlank zu halten, den Anweisungen zu folgen und den Kontostand zu heben. Natürlich, Deutsch müssen sie erst mal lernen, aber alles andere kommt dann wie von selbst. Und schließlich zahlen sie für uns die Renten. Ende gut, alles gut.

So einfach ist es, an die "profundeste Kultur der westlichen Welt" Anschluß zu finden, da verstehen wir gar nicht, wie einer etwas dagegen haben kann, gegen die "deutsche Leitkultur". Es geht ja gar nicht darum, deutsche Volkslieder zu lernen und deutsche Märchen, den Verlauf des Rheins zu verfolgen, die Hermannsschlacht und die Völkerschlacht zu kennen, Balladen von Schiller auswendig zu lernen und Hölderlin zu erläutern. Es geht ja nur ums Geldverdienen und die hierzu nötige Anpassung. Das ist überall auf der Welt so, im Grunde ist es gar keine "deutsche" Leitkultur, sondern eine westliche Leitkultur, die Deutschland besonders perfektioniert hat und an Bedürftige weitergeben will.

"Was ist deutsch?" ist eine der Fragen, auf die man sich niemals einlassen soll. Wie bei "Was ist Kunst?" oder "Was kommt nach dem Tod?" kann man sich dabei nur blamieren. Angela Merkel nennt "die Fahne, die Nationalhymne, Heimat". Dann fällt ihr das Grundgesetz ein und "Landschaft". Entsprechend habe man sich nach 1990 "auf eine ganz unbekümmerte Art gefreut, daß wir jetzt die Nationalhymne singen und die Fahne schwenken konnten". Der Grünen-Abgeordnete Cem Özdemir meint, früher sei es deutsch gewesen, "Schweinebraten zu essen", inzwischen widerspreche auch Döner dem Deutschtum nicht mehr. Angela Merkel hält es da nach wie vor mit "Kartoffelsuppe".

Wie gesagt, man kann sich nur blamieren. Auch mit Grimm, Rhein und Hölderlin blamiert man sich schließlich. Denn unter Umständen macht einem da ein schwarzer Germanist schnell etwas vor. Wie in der Scholz-&-Friends-Strategie gegen Rechts mit Plakaten gutgebauter junger Schwarzer, die das "Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein"-T-Shirt der rechtsextremen Szene tragen. Dieser deutsche Ausdruck im Gesicht scheint unverkennbar – und ist doch Verkleidung wie das Hemd. Wie erkennt man das "echt Deutsche"? Gar nicht, aber das heißt nicht, daß es nicht existiert. Man muß nicht Wittgenstein zitieren, um daran zu erinnern, daß es Dinge gibt, "über die man nicht sprechen kann", und daß das die wichtigsten Dinge sind. Heutzutage ist es aber schon nötig, Wittgenstein zu zitieren, weil man sonst mit der Mahnung zum Schweigen in der Diskursgesellschaft als eine Art Idiot dasteht. In manchen Situationen ist es das einzig Richtige, wie ein Idiot oder eine Idiotin dazustehen. Etwa wenn es um Liebeserklärungen geht, um letzte Worte – oder um falsche Fragen.

Warum spricht man von "deutsch", wenn man humanistisch meint? Zwar haben deutsche Dichter und Denker bekanntlich einen großen Anteil an der Schaffung und Verbreitung humanistischer Werte, die ihrerseits die Grundlage des heute herrschenden Liberalismus und Individualismus sind. Auf diesen Anteil darf man stolz sein und darf sich freuen, daß dieser Individualismus unter dem Namen Globalisierung alle traditionellen nicht-humanistischen Kulturen in und außerhalb Europas zersetzt und zerstört. Diesen Kampf und diesen Sieg darf man feiern. Nur sollte man dabei den Ausdruck "deutsch" lieber vermeiden, weil der in der Tat, wie Heiner Geißler erklärte, "mißverständlich" ist.Immerhin sind es ja auch die Deutschen, die seit dem 19. Jahrhundert jenen Humanismus am schärfsten und gründlichsten kritisieren und die im 20. Jahrhundert sogar den Versuch machen, sich darüber hinwegzusetzen und ihre Sache auf ganz andere Grundlagen zu stellen.

Es gibt in Deutschland zwei Traditionslinien, die sich vielfach kreuzen, aber schließlich doch das genaue Gegenteil ergeben. Neben Lessing, Humboldt, Schiller und anderen reinen Humanisten gibt es eine ganze Reihe deutscher Geister, die in dieser Hinsicht zweideutig oder, um mit Geißler zu reden, "mißverständlich" sind. Dazu gehört, trotz allem, Goethe, gehören Kleist und Hölderlin, Schelling, Nietzsche, Heidegger und andere. Thomas Mann hat das Janusköpfige der deutschen Kultur in seinem Roman "Doktor Faustus" in der Gestalt eines ungleichen Freundespaares auftreten lassen. Serenus Zeitblom, Humanist und Altphilologe, Pädagoge und Familienvater, und Adrian Leverkühn, der geniale Musiker und Einsame, Leidende, Dämonische, Gefährliche und Gefährdete. Für diese Zerrissenheit einen "Leitanspruch" zu erheben, wäre in der Tat nicht bloß "überflüssig", sondern unverschämt. Vor allem wenn man bedenkt, wohin sie geführt hat.

"Was ist deutsch?" ist eine falsche Frage und erzwingt falsche Antworten. Es ist nun einmal so, daß die "positive" deutsche Tradition – die, die die Linken "fortschrittlich" nannten – uns vom Volk weg auf die Menschheit zuführt. Man braucht nur an Beethoven zu denken: "Alle Menschen werden Brüder", das ist in der Tat deutsch, aber führt vom Deutschen weg. Und die andere deutsche Tradition, die antimoderne und antiaufklärerische, kann keine Diskursherrschaft erringen, weil ihr der Diskurs wesensfremd ist. Es bleibt auf diese Weise nichts Deutsches mehr übrig, und das zeigt sich in der Rede von den "Grundwerten unseres Grundgesetzes", die "für alle gelten müssen, die in Deutschland leben".

So formuliert es auch der neue CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer. Er macht sich Sorgen um "Tausende Frauen und Mädchen türkischer Herkunft, die bei uns auch heute noch in Hochzeiten hineingezwungen werden". Die Sorge ist berechtigt, aber sie hat mit dem Deutschsein nicht das geringste zu tun, so als ob das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen etwas typisch Deutsches wäre. Darauf "stolz" zu sein, wie Meyer es offensichtlich ist, heißt sich mit fremden Federn zu schmücken.

Die Emanzipation nicht nur der Frau, sondern des Menschen ist nicht deutsch und auch europäisch nur im historischen Sinne. Christentum, Aufklärung und Romantik sind keine völkischen, sondern humanistische Bewegungen. Philosophisch betrifft die über solche Stufen fortschreitende Emanzipation immer den Menschen als "Vernunftwesen" (Aristoteles) und kann auch nur darum einen nachvollziehbaren Anspruch auf universelle Geltung erheben. Also auf eine Geltung auch für Ausländer und Nicht-Europäer. Soweit wir unsere Ausländer eingemeinden wollen und müssen, sollte auf den Bezug zum "Deutschen" ganz verzichtet werden. Damit haben diese Ausländer überhaupt nichts zu tun. Die Gründe, weshalb sie herkommen, sind menschliche und die Interessen, die sie hier haben, sind ebenfalls menschlich. Und je mehr Ausländer und Nicht-Europäer wir hereinholen oder hereinlassen, desto geringer wird die Rolle des "Deutschen", was auch immer das ist, und desto größer wird die Rolle des Menschlichen, des Humanitären sein.

Was das für die Kultur bedeutet, ist ziemlich klar. Sie wird verschwinden bzw. durch etwas ersetzt werden, was man vielleicht auch Kultur nennen kann, aber nicht nach den bisherigen Ansprüchen und Kriterien. Die Anzeichen hierfür sind bereits deutlich zu sehen.

Schon längst ist es doch so, daß nicht wir durch die Ausländer, sondern die Ausländer durch uns korrumpiert werden. Wenn man unter "Korruption" den Einbruch des Individualismus in geschlossene Kulturen verstehen will. Wer sich gegen eine "Überfremdung" zu wehren hat, sind die Einwanderer, die ihre Kinder vom Gottesdienst in die Disco und aus der Familie in gemischte Cliquen abwandern sehen. Was diesen fremden Kulturen wertvoll war, wird nun zur Unterhaltung und Abwechslung einer übersättigten Menge verramscht. Die unbestreitbar leitende Idee einer multikulturellen Gesellschaft, das unangreifbare Prinzip, das ihr zugrunde liegt und wodurch sie funktioniert, ist das Geld. Des Geldes wegen sind die Ausländer gekommen, des Geldes wegen haben wir sie geholt. Und nur auf das Geld können wir uns berufen, wenn uns die Einwanderung manchmal zu viel oder zu unbequem wird. Unsere "deutsche Identität" ist kein Argument, weil wir sie längst freiwillig aufgegeben haben und ganz ohne Zuwanderungsdruck, indem wir auf die individualistischen Prinzipien schworen wie andere westliche Länder auch. Der Individualismus ist nämlich die Zerstörung der Kultur und der Triumph des Geldes. Nur durch das Geld lassen sich die Interessen so vieler Individuen einigermaßen abgleichen. Nur dem Geld gehorcht, wer keine andere Autorität mehr anerkennt.

"Viel zu sehr" findet Mailer das Land, das er besuchte, "amerikanisiert", vor allem weil "das Geld das letzte Ziel" ist, "was übrig blieb". Geld ist zwar "eine amerikanische Tugend". Mittlerweile aber gilt sie "mehr oder weniger für die ganze Welt". Schuld daran ist – natürlich – die Zerstörung der Ideale. Das erste Ideal, das im 20. Jahrhundert zerstört wurde, ist das sozialistische und kommunistische Ideal: "Die Leute waren einfach nicht edel genug ..." Das zweite Ideal ist die Kultur: "Deutschland verfügte über eine fortgeschrittene und raffinierte Kultur, und es wurde trotzdem zum Schauplatz einer surrealen Barbarei..." Damit – so Mailer – "starb der Glaube, daß Kultur die Welt entscheidend bereichern könnte." Seitdem – können wir zur Beruhigung aller Multikulturalisten sagen – bedeutet "Leitkultur" nichts anderes mehr als Deutschlernen und pünktliches Erscheinen am Arbeitsplatz. Auf keinen Fall bedeutet es Wagner, weder mit noch ohne Sozialismus, oder "Hänsel und Gretel" mit der Hexe und mit dem Ofen. Auf keinen Fall bedeutet es jene Kultur, "die den Nationalsozialismus hervorbrachte" (Mailer).

Merz spricht von "deutscher Leitkultur", meint aber eigentlich westliche Geldkultur. Mailer spricht von der Geldkultur, die durch die Katastrophe der profunden deutschen Kultur weltweit verursacht wurde. Noch einmal: Mailer behauptet, daß mit dem Tod der deutschen Kultur in der nationalsozialistischen Barbarei die Kultur überhaupt verendet sei und wir darum heute selbst unter konservativen Vorzeichen nichts anderes mehr serviert bekommen als KomMerz.

Der Dichter blickt tief – aber vielleicht läßt sich noch etwas tiefer blicken: Wieso entschließt sich denn eine – die? – leitende Kulturnation auf einmal zur "Barbarei"? Was die Amerikaner betrifft, behauptet Mailer: "Amerikaner mögen Blutbäder." Das ist eine klare Auskunft. Das schadet auch nichts, solange es Nationen wie die deutsche gibt, die Kultur hüten. Wenn die dann aber auch anfangen, "Blutbäder" zu "mögen", und zwar nicht nur im (amerikanischen) Kino, sondern auch in Wirklichkeit, dann ist die Katastrophe da. Dann rettet uns nur noch eins: das Geld. Denn wirklich leisten können sich moderne Kriege nur die Amerikaner. Oder noch anders: Als Wotan schwach geworden, schmiedet der Zwerg aus Gold einen Ring und will über die Welt herrschen. Es sei denn, es kommt einer, der sich aus Geld nichts macht. Der wäre aber dann unkontrollierbar. Das Ende ist immer die Katastrophe. So jedenfalls bei Wagner. Da ist es vielleicht doch keine so schlechte Idee, die Götter "in Chefanzügen" auf die Bühne zu schicken. Vielleicht könnte einer sogar den Anzug von Friedrich Merz tragen: "Nur weil einer ein Gott ist, hat er noch lange nicht die Antworten auf alle Fragen" (Mailer). Und nur weil einer ein konservativer Politiker ist, sagt er noch lange nicht, was er meint, oder was seine Wähler vielleicht meinen könnten.

Mit den "konservativsten Kreisen" ist der Bayreuth-Besucher Norman Mailer einer Meinung: "Es war schrecklich." Er wünscht sich die alten Inszenierungen mit Bärenfell und Trinkhorn zurück. Dabei kommt es bei Wagner nicht auf die Ästhetik, sondern immer auf die Weltanschauung an. Und Weltanschauung ist häßlich, wenn nicht "schrecklich", auf jeden Fall aber kämpferisch. Mit anderen Worten: Pfiffe müssen sein. Ist auch das "typisch", dieses ungemütliche Kunstverständnis? Obwohl das Wort "gemütlich" – wie übrigens auch "Leitmotiv" – zu jenen gehört, die sich nicht übersetzen lassen, weiß der Deutsche immer genau, wann er "gemütlich" zu sein hat und wann das Gegenteil gefragt ist. Die Musik bietet ihm beides, heute Meistersinger, morgen Musikantenstadl.

"Wagners Götter tun ihr Bestes unter schwierigen Umständen", stellt Mailer fest. Darum ist der "Ring" so deutsch und zugleich so ausgesprochen modern.


 
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