© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/00 10. November 2000

 
Eine demokratische Wende
Die Leitkultur-Debatte zeigt die Schwäche des rot-grünen Lagers
Dieter Stein

Es sprechen wenig Anzeichen dafür, daß die CDU die Debatte um "Leitkultur" zielgerichtet angezettelt hat. Der Begriff fiel beiläufig auf einer Pressekonferenz. Nun ist der Stein ins Wasser gefallen und schlägt immer höhere Wellen. SPD, Grüne, Kirchenvertreter und maßgebliche Teile der Medien argumentieren nicht deshalb gegen den Begriff, weil er irgend etwas aussagen würde – er wird ja erst jetzt mühsam mit Leben gefüllt. Der Begriff wird angegriffen, weil er für ein Thema steht, bei der sich die Linke in Deutschland in der Defensive sieht. Es ist nämlich die nationale Frage.

Bedauerlicherweise hat die Linke in Deutschland ein schwieriges Verhältnis zur Nation, unter anderem deshalb, weil die nationale Einheit nicht durch sie, sondern durch Nationalliberale unter Otto von Bismarck 1871 durchgesetzt wurde. Unter Bismarck befand sich die Linke in Opposition zum Staat und tendierte schließlich zum Internationalismus und überließ den Nationalismus kampflos der Rechten. In keinem europäischen Land unterwarf sich später die Kommunistische Partei derartig willenlos den Moskauer Direktiven wie in Deutschland. Was den Kommunisten der Weimarer Republik in der Auseinandersetzung mit Hitler zum Verhängnis wurde. Diese internationalistische Kollaboration wirkt bis heute nach. Das nationale Erbe großer Sozialdemokraten von Friedrich Ebert über Kurt Schumacher bis zum späten Willy Brandt wird immer noch überlagert durch ein irritiertes bis ablehnendes Verhältnis zur eigenen Nation.

Nicht daß die CDU frei wäre von solchen Irritationen. Schließlich wurde sie in Westdeutschland mit Konrad Adenauer von einem ausgewiesenen Freund einer rheinischen Separat-Republik, unabhängig vom protestantischen Preußen, angeführt. Daß Adenauer weder ein Anhänger Berlins noch ein leidenschaftlicher Befürworter der Wiedervereinigung war, ist selbst unter CDU-nahen Historikern unbestritten. Adenauer trat hingegen, trotz des gehässigen Schumacher-Wortes vom "Kanzler der Alliierten" wenn auch schlitzorig, aber wesentlich selbstbewußter gegenüber den Siegermächten auf, als alle westdeutschen Kanzler nach ihm.

Die nationale Einheit der Deutschen ist – was merkwürdigerweise gelegentlich als historisches Manko angesehen wird – nicht in einer blutigen Revolution erkämpft worden wie in Frankreich. Sie hat sich durchgesetzt, weil sie sich schlicht ergeben hat – gegen den Willen der jeweils Herrschenden durch den selbstverständlichen Wunsch des Volkes. Einen Wunsch, der am 9. November 1989 seinen denkbar friedlichsten Ausdruck fand. So friedlich auch die Einheit zustande kam, so groß ist nach wie vor das Mißtrauen der politischen Klasse gegen das eigene Volk. Zur Ruhe kommen soll Deutschland offenbar erst, wenn es ein Deutschland als geschichtlich gewachsener Nationalstaat, ein deutsches Volk als souveräne Größe nicht mehr gibt, sondern die Begriffe durch Überwindung aufgehoben sind. Deutsche Geschichte kann es nicht mehr geben, wenn es kein deutsches Volk und kein Deutschland mehr gibt. Ein altbekannter Versuch, der schon sowohl in Westdeutschland als auch der DDR fehlgeschlagen ist. In beiden Teilen Deutschlands hatte man bis in die achtziger Jahre versucht, auf die Begriffe "Deutschland" und "deutsch" weitgehend zu verzichten, als ob es sich dabei um kontaminierte Wörter handelt. In der DDR, weil die SED die Idee des sozialistischen Vaterlandes geboren und sich von der Idee der Einheit verabschiedet hatte, im Westen, weil man sich mit der "Bundesrepublik" und der Teilung als Konsequenz und letzter Antwort der Geschichte abfinden wollte.

Die CDU hat durch die "Leitkultur"-Debatte demoskopisch Boden gutgemacht. Noch ist offen, ob sie den Schwung, der in dieser Debatte liegt, ernsthaft nutzt und die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl und damit die Zuwanderung aus rein wirtschaftlichen Gründen, die nicht im Interesse Deutschlands liegt, offensiv thematisiert. Aller Erfahrung nach spitzt die CDU aber die Lippen nur und pfeift nicht.

Heiner Geißler, einst langjähriger Generalsekretär der CDU, hat die Leitkultur-Kampagne seiner Partei als Fehler kritisiert. Er meint, die CDU könne mit der Frage der Einwanderung keine Wahlen gewinnen. Auch die Hessen-Wahl sei nicht durch die Doppelpaß-Kampagne von Roland Koch, sondern durch die wirtschaftspolitische Schwäche in der Anfangsphase von Rot-Grün entschieden worden. Geißler empfielt statt dessen der eigenen Partei, die Bundesregierung durch Besetzung globalisierungskritischer Positionen unter Druck zu setzen.

Vielleicht hat Geißler mit seiner These allein deshalb schon recht, weil die CDU zu einer konsequenten Ausländerpolitik und einer mutigen Formulierung der Sorgen der Bevölkerung in dieser Frage gar nicht entschlossen und in der Lage ist. Die CDU läuft zwar markig an, landet als Papiertiger und legitimisiert dann die Position rechtspopulistischer Parteien, die konsequent fordern, was die CDU nur halbherzig artikuliert. Somit hätte Geißler tatsächlich recht. Es gibt aber auch immer noch die Möglichkeit, daß sich der Flügel von Schönbohm und Koch durchsetzt und insbesondere das heiße Eisen der Asylpolitik ins Zentrum rückt.

Daß die CDU die SPD durch eine globalisierungskritische Position unter Druck setzen könnte und Spaltungskräfte auf dem linken SPD-Flügel wegen Schröders industriefreundlicher Politik verstärkt, ist in der Theorie nachvollziehbar, jedoch mit Blick auf die Großspender der Union kaum realistisch. Es ist nicht auszuschließen, daß sich die CDU immer wieder den Spaß leistet, den Wählerwillen in wichtigen nationalen Fragen zu ignorieren, daß sie sich aber gegen die Lobbyisten der Industrie und der Konzerne wendet, aus deren Reihen die klammen Kassen der durch die Spendenaffäre gebeutelten CDU gefüllt werden, ist eher unwahrscheinlich. Es wäre eine politische Sensation, wenn die CDU beides tun würde – sich als Volkspartei voll auf die Seite des Volkes zu schlagen, gegen die rot-grüne Regierung Volksabstimmungen einzufordern, als auch einen globalisierungskritischen Kurs gegen die eigenen Lobbyisten zu betreiben.

Peter Müller, der Verfasser des Zuwanderungs-Papiers der CDU, hat mit seinem Plädoyer für Volksabstimmungen ausdrücklich in der Frage der Zuwanderung eine vernünftige Position bezogen. Es muß endlich Schluß sein mit der These, der Wählerwille müsse erst durch mehrere Siebe gefiltert werden, bevor er zum Tragen kommt. Die Parteien, denen oft der eigene Machterhalt wichtiger ist als die Wünsche des Souveräns, des Volkes, können ruhig stärker unter Druck geraten – auch wenn dabei liebgewonnene Utopien und politische Luftschlösser untergehen.


 
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