© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/00 10. November 2000

 
Kunst am Reichstag
Zivilgesellschaft im Cyberspace
Alexander Schmidt

Es hat den Anschein, als entwickle sich der Reichstag mehr und mehr zum Ziel- und Anlaufpunkt von Künstlern mit Ambitionen zum Freizeitpolitiker. Nachdem der "Aktionskünstler" Haacke im Reichstag einen Erdtrog aufstellte, um zu dokumentieren, daß für ihn die Wohnbevölkerung in Deutschland und das Volk deckungsgleiche Größen seien, hat jetzt auch der Multimedia-Künstler Hermann Josef Hack Reformbedarf angemeldet und einen virtuellen Tower of Power in schwindelerregenden zehn Metern Höhe über dem Reichstag errichtet. "Du bist das Volk", lautet sein toughes Credo, mit dem er sein imaginäres Hochhaus in ein lebendiges Symbol für "mehr Solidarität und Nachbarschaft" verwandeln will. Offen steht der "Tower of Power" für jeden, der sich an den im Hause geltenden Mietvertrag, das Grundgesetz der Bundesrepublik, halten will. Hat ein Mieter erst einmal sein virtuelles Zimmer ergattert, beginnt seine virtuelle politische Existenz. Stellungnahmen zur aktuellen Politik sind ebenso erwünscht wie die Teilnahme an künftig stattfindenden Chat-Events. Spaziergänge durch die Räume des Hochhauses sollen zum gegenseitigen Besuch der Bewohner einladen.

Vor allem junge Menschen sollen hier die Möglichkeit haben, ihre Meinung öffentlich zu äußern, erklärt Hack seinen volkspädagogischen Auftrag. Die Errungenschaften der parlamentarischen Demokratie sollten in die Wildnis des Cyberspace hinübergerettet werden. Hack, der den Symbolgehalt seines Hochhauses, das über dem Südflügel des Reichstages thront, nutzt, will alle Bewohner des Hauses dazu aufrufen, den Politikern aufs Dach zu steigen, ohne Bannmeilen und völlig unbürokratisch. Ist man dann tatsächlich eingezogen und hat sich seinen Raum virtuell gestaltet, wird man auch schon in die tiefgreifenden Diskussionen zwischen Bewohnern wie Flirtgirl und Hasibaerchen mit einbezogen, und man erfährt, was man schon lange geahnt hat: Army35 liebt uns alle.

Auf wirkliche Gegenliebe stößt Hack jedoch bei den alteingesessenen Bewohnern des Reichstages nicht. Bundestagspräsident Thierse sagte Hack die Teilnahme am ersten Spatenstich ab, da er wegen der laufenden Kunst-am-Bau-Projekte keine weiteren Kunstprojekte initiieren wolle. Der Berliner Senat zeigte gar kein Verständnis und verweigert jede Zusammenarbeit. Lediglich die Grünen-Politiker Cem Özdemir, Ekin Deligöz und Grietje Bettin sowie der CDU-Abgeordnete Rainer Eppelmann bekundeten Sympathie und Unterstützung für das Projekt, das einen neuen Trend zur politischen Anteilnahme deutlich mache.

Chatforen, Diskussiongruppen, dol2day und alle anderen nur in der Netzwelt existenten Politikbereiche gaukeln vor, daß politische Partizipation ohne die Übernahme von persönlicher Verantwortung möglich ist. Statt in der eigenen Stadt Bäume zu pflanzen, wird jetzt virtuell seine Betroffenheit darüber zum Ausdruck gebracht, daß es in Deutschland so grau geworden ist und man dagegen etwas tun müsse. Dieser Entwicklung hat auch Hack einen großen Dienst erwiesen.


 
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