© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/00 10. November 2000

 
PRO&CONTRA
Brauchen wir eine deutsche Leitkultur?
Sebastian Ehlers / Prof. Dr. Hakki Keskin

Gerade heute, in unserer schnellebigen Gesellschaft, ist eine Leitkultur wichtiger denn je. Denn viele Menschen suchen nach etwas verbindlichem und nach etwas, was sie zusammenhält, und das kann meiner Meinung nach nur die gemeinsame Kultur sein. Leider haben wir in unserem Land zur Zeit ein Problem des Miteinanders, und das nicht nur zwischen Deutschen und Ausländern, sondern auch zwischen Menschen in den alten und in den neuen Bundesländern. Und das nach zehn Jahren deutscher Einheit! Ein Grund hierfür ist auch die fehlende Leitkultur.

Nach 40 Jahren der Teilung Deutschlands sind den Bürgern in den neuen und in den alten Bundesländern nicht so viele Gemeinsamkeiten geblieben, und eine gemeinsame Leitkultur, unter der sich die Menschen hätten zusammenfinden können, gab es einfach nicht. Und wie soll man einen integrationswilligen Ausländer erfolgreich in die deutsche Gesellschaft integrieren, wenn wir keine Leitkultur haben? Wenn ein Ausländer die Frage stellen sollte: "Was ist denn nun die deutsche Leitkultur?", dann sollte auch jeder in der Lage sein, ihm diese zu beantworten. Die leider oft vergessenen deutschen Tugenden wie Treue, Fleiß und Pünktlichkeit spielen eine wichtige Rolle, denn auch sie sollten Bestandteile der deutschen Leitkultur sein.

Jedes Land hat seine Leitkultur, und das ist auch gut so. Denn wir Deutschen haben doch eine ganz andere Auffassung von der Gleichberechtigung zwischen Mann und

Frau als einige Menschen in den Ländern der islamischen Welt. Deshalb brauchen wir in Deutschland eine Leitkultur, denn sie ist für Deutsche und Ausländer in gleichem Maße eine Orientierungshilfe und ein Anhaltspunkt in unsicheren Zeiten. Deshalb ist eine Leitkultur auch für den inneren Frieden in Deutschland notwendig. Es muß klargemacht werden, was mit diesem Begriff gemeint ist, denn sonst könnten einige es auch falsch verstehen und denken, mit deutscher Leitkultur sei Sauerkraut, Schweinshaxe und Bier gemeint.

 

Sebastian Ehlers ist Pressesprecher des Landesverbandes der Jungen Union in Mecklenburg-Vorpommern

 

 

Für alle in Deutschland lebenden kulturellen Minderheiten gelten selbstverständlich die deutschen Gesetze, an erster Stelle das Grundgesetz, gleichermaßen wie für deutsche Staatsbürger. Bei der von allen demokratischen Parteien geforderten Integration der kulturellen Minderheiten in die deutsche Gesellschaft wurde bislang unterstrichen, daß diese ihre "kulturelle Identität" bewahren und weiterentwickeln können. Dieses Recht wird ihnen ohnehin durch zahlreiche internationale Vereinbarungen sowie Beschlüsse der EU zuerkannt. Aus diesen Gründen stellt die Forderung nach Anpassung an eine "deutsche Leitkultur", wie dies neuerdings von manchen Unionspolitikern gefordert wird, eine gravierende Änderung der Politik dieser großen Volkspartei dar. Sie fordert damit nicht mehr eine Integration, sondern die Assimilation und damit die Germanisierung der hier lebenden kulturellen Minderheiten. Oder haben diese Politiker dies schon immer unter Integration verstanden? Die Übernahme der "deutschen Leitkultur" zum Maßstab der Integrationspolitik zu erheben, drückt jedenfalls eine pure völkisch-nationalistische Orientierung dieser Politiker aus.

Die moderne Gesellschaft verlangt von ihren Bürgern und kulturellen Minderheiten Verfassungspatriotismus die Akzeptanz der Menschen- und der Grundrechte sowie die darauf basierende Werteordnung, zu der wir uns voll und ganz bekennen.

Wir fordern die Unionspolitiker auf, endlich Farbe zu bekennen und ehrlich zu sagen, was sie unter Integration verstehen. Wir fordern die SPD, die Bündnisgrünen, die PDS und die FDP auf, aus den Fehlern vor der Wahl in Hessen zu lernen und eine offensiv informative Auseinandersetzung mit der Union über Zuwanderungs- und Integrationspolitik zu führen. Wir sind gern bereit, unseren Beitrag zu diesem Diskussionsprozeß zu leisten.

 

Prof. Dr. Hakki Keskin ist Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland e. V.


 
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