© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/00 10. November 2000

 
Postmoderner Hokuspokus
Big Brother und Harry Potter sind zwei Seiten einer Medaille
Silke Lührmann

Die erste "Big-Brother"-Staffel zeitigte eine gewisse Authentizität, indem sie uns unsere unter den schweigenden Augen der Überwachungskameras gelebte real existierende Banalität allabendlich vorführte. Wer hätte vermutet, daß dieser erbärmliche Rest an Glaubwürdigkeit noch kooptierbar war? Daß sich Werte noch umwerten lassen, wenn sie längst obsolet sind?

Die zweite Staffel, klagen selbst leidenschaftliche Apologeten der ersten, sei überhaupt nicht mehr echt, weil sich die neuen Container-Bewohner nur noch zur Schau stellten, um berühmt zu werden. Klassenziel voll erreicht, möchte man ihnen sagen: Willkommen in der Postmoderne! Da soll noch jemand behaupten, Fernsehen mache dumm und dick.

Wenn alles Reale sowieso schrecklich unecht ist, kann man auch gleich in die Offensive gehen und "Harry Potter" lesen, statt "Big Brother" zu gucken. Es gibt Menschen, die tun beides. Der bebrillte Zauberschüler, der mit jedem der insgesamt sieben geplanten Bücher, von denen das vierte gerade auf deutsch mit viel Furore erschienen ist, ein Jahr älter werden und so seine getreuen Leser behutsam aus der eigenen Kindheit hinausgeleiten soll, ist nicht nur als Jugendbuch zum Kassenschlager geworden. Er hat auch die Feuilletonseiten sämtlicher besseren Zeitungen erobert und einen Kultstatus gewonnen, der – weit über sie hinausgehend – fast an den der legendären "Star Trek"-Serien heranreicht. Und das nicht nur des politisch korrekten pädagogischen Wertes wegen, wie es seinerzeit bei Michael Endes Momo und Janoschs Panama der Fall war.

Gewissenhafte Steuerzahler, die Tag und Nacht als Softwareentwickler das Bruttosozialprodukt steigern, lustwandeln durch Joanne K. Rowlings liebevoll erdichtete Phantasien, als wären sie die Pornoregale ihrer Videothek. Harry Potters englischen Verleger Bloomsbury brachte das auf die Idee, eine eigene Erwachsenenausgabe mit "seriösem" Einband zu kreieren, um die Lektüre in der U-Bahn weniger peinlich zu gestalten.

Und während es in einer Folge der Comicserie "South Park" den Eltern der amerikanischen Kleinstadt gelingt, ihren Kindern die ebenso teure wie politisch subversive Pokémon-Begeisterung auszutreiben, indem sie vorgeben, die gelbe Maus-Plage aus Japan selber "cool" zu finden, hat der "Traue keinem über 30 Geschmack zu"-Faktor Harry Potters Beliebtheit bislang keinen Abbruch tun können.

Als ob Harry Potter in seiner verborgenen Welt der Zauberer nicht schon genug Abenteuer zu bestehen hätte, ranken sich auch bei uns, in der Muggelwelt, die zauberhaftesten Märchen um ihn. Da sind die Piraten, die seine sichere Auslieferung in China gefährdeten, wie die BBC berichtete, und ihm auch im Internet mit Raubübersetzungen heftig zusetzen. Da ist die Autorin, die sich zum Schreiben ins Café setzte, weil ihre Wohnung in Edinborough so klein und kalt war, und immer noch nicht glauben kann, daß sie plötzlich reich sei. Da ist die Urlaubsliebe, die ein schlechtes Ende nahm und sie wochenlang durch den Londoner Blätterwald verfolgte.

Harry Potters Welt ist keine heile – schließlich leben alle Erzählungen von Konflikten –, aber sie ist längst nicht so kaputt, wie sie sein könnte. Immerhin hat er gleich zwei beste Freunde, und immerhin kann er zaubern. Das kann das Böse zwar auch, und so läßt es sich nicht restlos vernichten. Im Horrorgenre hat sich dieses Prinzip, das nicht zuletzt der Ökonomie der Fortsezungsgeschichte geschuldet ist, seit Jahrzehnten bewährt. Eindämmen kann man das Böse allerdings sehr wohl, denn an zu übermächtig unlösbaren Konflikten stirbt jede Erzählung.

Unsere Zeit setzt Absolutismen auf Diät, nachdem sie ihrer Dekonstruktion müde geworden ist. Man könnte sich durchaus falschere Gebrauchsanleitungen vorstellen für eine Kultur der gesunkenen Erwartungen, deren Vordenker mit viel theoretischem Aufwand für einen "schwachen Humanismus", einen "schwachen Objektivismus", einen "gemäßigten Nationalismus", einen "strategischen Essentialismus" plädieren, deren Politiker einen schwachen Sozialismus oder einen ebenso debilen Konservatismus praktizieren: Laut einer Presseerklärung des Kölner Markt- und Medienforschungsinstituts ifm Wirkungen + Strategien stellt "Harry Potter" eine "Orientierungsbibel" dar, die die Lebenswelten von Kindern und Erwachsenen gegenseitig erfahrbar macht.

Physiologische Untersuchungen haben kürzlich ergeben, daß Kinder und Jugendliche sich vom Fernsehen mehr gestreßt fühlen als selbst in der Schule. Harry Potters Erlebnisse dagegen werden übereinstimmend als "beruhigend" empfunden. Magie statt Technologie scheint weniger unheimlich.

Joanne K. Rowling sieht das ähnlich. Das Magische, sagt sie, "verleiht Kindern Macht, die sie sonst nicht haben. Es ist eine historische Tatsache, daß der erste Glaube in wohl jeder Kultur die Magie ist. Sie wird immer erst später durch Religion ersetzt. Und erst ganz spät kommt dann die Wissenschaft hinzu. Damals wie heute dreht sich alles um den ewigen Wunsch, daß wir das Leben um uns herum vielleicht doch ein wenig mehr beeinflussen können, und vielleicht ist dieser Wunsch in unserem Computerzeitalter ein wenig intensiver." Von dem "Ideal der ewigen Kindheit" hält sie gar nichts: "Natürlich kann das eine wunderbare Zeit sein; man trägt keine Verantwortung, muß sich nicht um andere scheren. Aber ... bei allem Glück ist man total machtlos." Den britischen Kinderbuchklassiker "Peter Pan" findet sie gar "finster und bedrohlich. Es basiert auf einer Lüge. Es gibt keine endlose Kindheit."

Einer der weniger dummen Witze dieses Jahres stammt aus Clint Eastwoods Weltall-Western "Space Cowboys": "Als ich ein kleines Mädchen war, kannte ich keinen Jungen, der nicht Astronaut werden wollte, wenn er erwachsen ist!" – "Was, du hast einen Jungen gekannt, der erwachsen werden wollte?" Dabei kann von einer Infantilisierung der Gesellschaft keine Rede sein. Im Gegenteil – Big Brother ist erwachsen, nämlich selbstreflexiv geworden: ein bißchen schlauer und ein großes bißchen zynischer, und wir mit ihm. Wer kann sich heute noch einen Pickel ausdrücken, ohne die versteckte Kamera hinter dem Spiegel zu sehen?

Diese Erfahrung wird auch Harry Potter nicht erspart bleiben. Es sei denn, Joanne K. Rowling erweist ihm die Gnade, ihr ehrgeiziges Projekt aufzugeben, und läßt ihn doch für immer vierzehn sein. Denn Harry Potter ist eine seltsame Kreatur: ein Jugendlicher, der mit sich und der Welt und mit seiner Funktion in ihr so zufrieden ist, daß er Jahr für Jahr das Ende der Sommerferien herbeisehnt. Von der Sorte gibt es allerdings bestimmt mehr, als man befürchtet, und hierin liegt ein Teil von Harry Potters Attraktivität: Niemand muß sich mehr schämen, ein Streber gewesen zu sein. Ihn so emphatisch zum Helden wider die Normalität aufzupolieren, wäre dann ein äußerst fauler Zaubertrick seiner Schöpferin.

Damit das Unternehmen Staat keinen einzigen unwilligen Inder zu importieren braucht, werden die Harry Potters etwas Vernünftiges, wenn sie erwachsen sind, und irgendwann dämmert ihnen, daß sie die Welt entzaubert haben. Dann kleben sie am Container, um der Wirklichkeit auf die Schliche zu kommen – Muggelei in Reinkultur: ein Muggel ist bekanntlich jeder Mensch, in dessen Adern kein Tropfen magisches Blut fließt –, und lesen Kinderbücher, um ihr zu entfliehen. Man könnte das Schizophrenie nennen oder aber Überlebenskunst.


 
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