© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/00 10. November 2000

 
Flucht ins Fernweh
Zum 150. Geburtstag des Schriftstellers Robert Louis Stevenson
Werner Olles

Wer sich Krankheit und Vitalität nur als Gegensatz vorstellen kann, muß bei Robert Louis Stevenson, einem jener "letzten, reinen Geschichtenerzähler", zu denen ihn Georg Steiner neben Poe, Kleist, Laskov und Mérimée zählte, umdenken. Am 13. November 1850 als behütetes Einzelkind einer lebenslustigen Pastorentochter und eines eher depressiven, calvinistisch-strengen Leuchtturm-Konstrukteurs in Edinburgh geboren, flüchtete sich das ewig kränkelnde Kind schon früh aus der umsorgten Bürgerlichkeit seines Elternhauses in eine von Fernweh und romantischen Abenteuern geprägte Traumwelt. Der Jurastudent stürzte seine gläubigen Eltern in eine tiefe Krise, als er sich zum Agnostizismus bekannte und sich zudem in den Kaschemmen und Bordellen der Edinburgher Altstadt mit ihrem Gewirr düsterer Gassen zu amüsieren pflegte.

Als der moralische Druck seines Vaters immer stärker wurde, zog er sich nach London zurück. Dort begann er zwei Jahre später eine Beziehung mit der temperamentvollen Amerikanerin Fanny Osbourne, die er in einer Malerkolonie bei Fontainebleau kennengelernt hatte. Fanny, die von ihrem Mann, einem notorischen Frauenhelden und Bankrotteur, getrennt lebte, war zehn Jahre älter als Stevenson. Als sie ein Jahr später in die USA zurückkehrte, reiste er auf einem Auswandererschiff hinterher und durchquerte in überfüllten Zügen das gesamte Land auf der Suche nach ihr. Ständig krank verarbeitete er dennoch die Fahrt zu einer Reisebeschreibung, die er, wie zuvor den Essay "On Falling in Love", seiner Geliebten widmete.

Endlich in Kalifornien angekommen war er dem Zusammenbruch nahe. Es sollte fast noch ein Jahr dauern, bis die Osbournes geschieden waren, aber im Mai 1880 konnten Stevenson und Fanny schließlich heiraten. Schon damals gaben ihm die Ärzte höchstens noch ein paar Monate, aber Fanny, die für Stevenson Ehefrau, Ersatzmutter, Lektorin und nicht zuletzt Krankenschwester war, schirmte ihren immer gebrechlicheren Mann rigoros vor allen Unannehmlichkeiten ab. Als die Familie zusammen mit Fannys Sohn Lloyd nach London zurückkehrte, entstand hier 1883 sein erster großer Roman "Die Schatzinsel".

Der Abenteuerroman um die "Hispaniola" und ihre seltsame Mannschaft, den Kajütenjungen und Ich-Erzähler Jim Hawkins, den einbeinigen Schiffskoch Long John Silver mit seinem krächzenden Papagei "Kapitän Flint", den griesgrämigen Captain Smollett, Baron Trelawney und Dr. Livesay war ursprünglich als Unterhaltung für Lloyd gedacht, dem gegenüber sich Stevenson wie ein älterer Bruder verhielt. Mit der "Schatzinsel" fand der Schriftsteller zu seinem eigentlichen literarischen Element, den romantischen Abenteuergeschichten.

Drei Jahre später erschienen "David Balfour" und die psychologisch-faszinierende Erzählung "Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde". Oscar Wilde, der Stevenson bewunderte, ließ sich von dem phantastischen Sujet zu seinem "Bildnis des Dorian Grey" inspirieren, und die viktorianische Epoche gruselte sich behaglich vor dem Faustischen im Menschengeist, wenn der ideale Menschenfreund und Wohltäter Dr. Jekyll durch den Genuß eines geheimnisvollen Elixiers, das die guten und bösen Triebe in seinem Inneren spaltet und als getrennte Lebewesen abwechselnd handeln läßt, zum hemmungslosen Wüstling und abgefeimten Verbrecher mutiert.

Im Mai 1888 brach Stevenson von San Francisco aus auf der Suche nach einem für seine kranken Lungen günstigeren Klima in einer gecharterten Segelyacht in Richtung Südsee auf. Auf der kleinen Insel Opolu im Samoa-Archipel ließ er sich auf einem Landsitz nieder. Hier entstanden die Erzählungen "Der schwarze Pfeil", "Der Selbstmörderclub" und "Das Flaschenteufelchen". Die Fragwürdigkeit des europäischen Kolonialismus beschrieb er in dem an Conrads "Herz der Finsternis" erinnernden Roman "Ebb-Tide" und – noch schärfer – in "Der Strand von Falesa".

Am Abend des 3. Dezember 1894 starb Robert Louis Stevenson im Alter von 44 Jahren an den Folgen einer Gehirnblutung. "Seit vierzehn Jahren bin ich nicht einen Tag wirklich gesund gewesen", hatte er noch wenigen Wochen zuvor dem Romancier George Meredith, einem guten Freund, anvertraut.

Die Werke dieses ewigen Träumers und notorischen Realitätsflüchtlings mit seiner reichen Phantasie und dem unbestechlichen Blick sind heute in alle Kultursprachen übersetzt. Inzwischen hat sogar die Literaturwissenschaft endlich begonnen, in Stevenson einen ernsthaften Romancier zu sehen. "Wir sollten uns weiden an einem Buch", schrieb er einmal, "uns hinreißen, entrücken lassen von ihm, und wenn wir von der Lektüre aufstehen, sollte in unserem Kopf ein einziger kaleidoskopischer Tanz von Bildern herrschen." Vom kalten und nebligen Schottland in die heilende, helle und warme Südsee gekommen, hatte Robert Louis Stevenson endlich seine "Schatzinsel" gefunden.


 
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