© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/00 10. November 2000

 
Wege aus der Staatskrise
Eine Tagung in Niedersachsen: Hochkarätige Vorträge über Leitkultur und Einwanderung
Hans-Joachim von Leesen

Zum zweiten Mal hatte die Staats- und Wirtschaftspolitische Gesellschaft e.V. (SWG) ihre Mitglieder und Sympathisanten eingeladen zu einem bundesweiten Seminar, diesmal unter dem Motto "Wege aus der Demokratie- und Staatskrise in Deutschland". Einhundert Plätze waren vorgesehen in einer repräsentativen Seminarstätte im Niedersächsischen, und alle waren in kurzer Zeit ausgebucht, so daß zahlreiche Absagen erteilt werden mußten.

Die Gesellschaft, 1962 mit dem Ziel gegründet, staatsbürgerliche Bildung im Sinne der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu verbreiten und zu vertiefen, hat zwar im Laufe der Zeit die Mittel ihrer Arbeit verändert, nicht aber ihren politischen Standort. Es ist deutlich, daß sie sich als national-konversative Gruppierung versteht, angelehnt damals wie heute an die Landsmannschaft Ostpreußen, doch in jeder Beziehung selbständig und von keiner Partei abhängig. An mehreren Orten in den norddeutschen Bundesländern lädt sie regelmäßig zu Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen ein. Einmal im Jahr erscheint ihr Deutschland Journal, in dem Texte von Vorträgen enthalten sind, die im Rahmen der SWG-Veranstaltungen gehalten wurden, aber auch Grundsatzartikel zu wesentlichen Fragen unseres Landes.

Die SWG finanziert ihre umfangreichen Aktivitäten ausnahmslos aus Spenden; öffentliche Mittel erhält sie nicht und strebt sie auch nicht an, um ihre Unabhängigkeit zu erhalten.

Aus der Beschreibung ist erkennbar, daß sich vor allem national gesinnte Menschen aus dem eher bürgerlichen Lager angesprochen fühlen, die früher wohl überwiegend dem rechten Flügel der CDU angehörten, heute aber zum größten Teil, entsprechend der Entwicklung dieser Partei, außerhalb als "heimatlose Rechte" andere Möglichkeiten der politischen Betätigung suchen.

Der Vorsitzende der SWG, Brigadegeneral a.D. Reinhard Uhle-Wettler, hat den Titel des Seminars damit begründet, daß sich die politische Lage in Deutschland weiter verschärft habe. Er beruft sich auf Herbert von Arnim, dem er zustimmt in seiner Feststellung, das deutsche Volk, der eigentliche Souverän, habe in unserem Staat nichts zu sagen. Die herrschende Klasse regiere weitgehend als neue Obrigkeit über die Köpfe des Volkes hinweg. Er fordert mit Willy Brandt: "Mehr Demokratie wagen!", worunter er versteht, daß eine wachsende Zahl von Initiativgruppen und Vereinen als außerparlamentarische Opposition Einfluß auf die "deformierte Demokratie" (Hans Apel) gewinnen müßte.

Das Einführungsreferat hielt der bei der SWG nicht zum ersten Mal auftretende und mit großem Beifall empfangene Berliner Zeithistoriker Arnulf Baring, eine freie undogmatische Stimme in unserem Land. Nach Barings Ansicht weigert sich die westdeutsche Mehrheit immer noch, die neue Lage zur Kenntnis zu nehmen, die nach der Wiedervereinigung entstanden ist. Sie habe nicht begriffen, welche neuen Herausforderungen auf Deutschland zukommen. Eine der wichtigsten ist die Überalterung der Deutschen mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen. Während im Jahre 1900 auf zehn Menschen über 65 Jahre 100 Jugendliche kamen, ist das Verhältnis heute ganz anders: Auf zehn Junge kommen zehn Alte. Die Deutschen sitzen biologisch auf einem absterbenden Ast. Daß die Einwohnerzahl Deutschlands nicht sinkt, ist allein auf die ständig steigende Zuwanderung aus aller Welt zurückzuführen, ein Zustrom, der unkontrolliert ist und schwerwiegende Probleme aufwerfen werde. Wenn in Deutschland nicht endlich eine verantwortungsbewußte Familienpolitik betrieben werde, in deren Mittelpunkt die Stärkung der Frau in ihrer Rolle als Mutter stehe, und wenn es nicht gelinge, in zwei bis drei Generationen die Einwanderer zu Deutschen zu machen, dann "wird unser Land auseinandergesprengt".

Baring bekannte sich zu einer sinnvollen und kontrollierten Einwanderung von Menschen, die die Deutschen konstruktiv ergänzen, lehnte aber die bisherige Praxis ab.

Ausdrücklich stimmte er dem CDU-Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz mit seiner Forderung nach einer deutschen Leitkultur zu. Es reiche zur Integration nicht aus, daß die Einwanderer die deutsche Sprache beherrschen sowie Verfassungskenntnis und -treue nachweisen. Merz‘ Propagierung der deutschen Leitkultur löse endlich eine Diskussion aus über die Frage, was deutsch ist – eine längst notwendige Auseinandersetzung!

Wenig zufrieden äußerte sich Baring über die CDU-Vorsitzende Merkel, die nach seinen Worten stets etwas später das wiederholt, was Kanzler Schröder gesagt hat, wenn auch mit geringerer Überzeugungskraft. Eigentlich, so Baring, gehörten viele aus der CDU-Führungsetage eigentlich in die SPD.

Ein weiteres Kernproblem sei die Erziehung und Bildung in der Bundesrepublik. Deutschland fällt in der Ausbildung international immer weiter ab: Persönlichkeiten mit überragender Intelligenz wanderten zunehmend in die USA aus, weil sie hier keine Würdigung erfahren und keine Entwicklungsmöglichkeiten haben. Deutschland müsse sein Bildungssystem mit dem Ziel reformieren, die Leistungen zu steigern.

Zum augenblicklichen "Kampf gegen Rechts" bemerkte Baring, nach seiner Beobachtung habe es in Deutschland niemals eine neonazistische Gefahr gegeben. Die Gewalttaten seien Produkte einer verwahrlosten Jugend. Die losgetretene Kampagne richte sich in Wahrheit gegen die Unions-Parteien. Wenn sie sich nicht couragiert wehren, dann werden sie untergehen. Wehren sie sich aber, werden sie es zwar zunächst schwer haben, letztendlich aber Erfolg haben.

In der Diskussion stellte Rüdiger Proske fest, daß angesichts der Einwanderung so vieler Völkerschaften in Deutschland ein verstärktes Nationalgefühl notwendig sei. Baring schloß mit dem abgewandelten Goethe-Wort: "Jeder sei ein Deutscher auf seine Weise, aber er sei’s".

Reinhard Uhle-Wettler unterbaute in seinem Referat seine These, daß die Bundesrepublik dank ihrer politischen Klasse zu einem von den Wählern unabhängigen Parteienstaat geworden sei – einer Klasse, die sich gegen die Wähler abschottet und ihren Nachwuchs aus den zugelassenen Parteien rekrutiert, unter der Voraussetzung, daß er die aufgerichteten Tabus strikt beachtet. Wage ein Politiker, sich nach den Forderungen des Volkes zu richten, werde er als Populist diskriminiert. Gegen eine Bundesrepublik, in der eine Beliebigkeit der Werte herrsche wie auch ein hemmungsloser Individualismus, der zur Zerstörung des Staates führe, erhob er die Forderung nach einer aktiven Bürgergesellschaft, die unter der Parole "Wir sind das Volk!" mehr Demokratie durchsetzt. Alle Argumente für rechte Kräfte seien formuliert. Jetzt gehe es darum, viele Gruppen entstehen zu lassen, die nach den Strategien der 68er Widerstand leisten gegen Bestrebungen der politischen Klasse, die freiheitlich-demokratische Grundordnung auszuhöhlen. Resignation sei nicht angebracht. Er schloß, den Titel eines Buches von Baring aufnehmend, mit dem Ruf: "Es lebe die Republik! Es lebe Deutschland!"

Der Bonner Politikwissenschaftler Hans-Helmuth Knütter hatte seinen Vortrag unter das Thema "Europa – ja, aber was wird aus Deutschland?" gestellt. Nach seiner Auffassung sind sich die etablierten Kräfte zur Zeit nur in einem Punkt einig, nämlich in ihrem "Antifaschismus", der in fataler Weise an die DDR erinnert. Die CDU, gegen die sich der Kampf gegen Rechts eigentlich richte, mache aus Angst bei den "Antifaschisten" mit. Den rechten Kräften warf Knütter vor, zu sehr vergangenheitsfixiert zu sein. Sie sollten das Gesicht der Zukunft zuwenden, zumal sich Deutschland in einem Epochenwandel befinde. Die Rechten müßten die Folgen der unvermeidbaren Globalisierung kanalisieren, indem sie eine gegenströmige Regionalisierung anstreben. Gleichmacherische Tendenzen, die immer stärker werden, seien zu bekämpfen, die deutsche Kultur, vor allem unsere Sprache, und das Geschichtsbewußtsein zu verteidigen.

In den zunehmenden Spannungen zwischen der deutschen Mehrheitsbevölkerung und den unkontrolliert Zugewanderten sieht Knütter bereits den Beginn eines "Zusammenpralls der Kulturen", wie der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington ihn vorausgesagt hat. Die Auseinandersetzung werde sich verschärfen. Es sei durchaus möglich, daß die überalterte und mutlos gewordene deutsche Mehrheit dabei verliert und die jungen ausländischen Minderheiten in Deutschland siegen. Dann aber solle man nach dem Wort des Augustinus leben: "Wenn dich der Tod schon holt, dann gehe wenigstens als Kämpfer unter."

Die reale Chance für eine rechte Partei sieht Knütter erst, wenn der Wohlstand in Deutschland schrumpft und wenn die Globalisierung an ihrem Gigantismus scheitert. Bis dahin sollten die Deutschen ihre Nationalität schärfen, indem sie ihre Sprache erhalten, ihre Literatur pflegen und als Volk zusammenhalten.

Hermann von Laer von der Universität Vechta hatte sich des Themas "Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland und ihre ökonomischen und sonstigen Folgen" angenommen. Er gab einen Abriß der Zuwanderungsentwicklung, die Formen angenommen hat, wie sie die Väter des Grundgesetzes nie vorgesehen oder gar gewünscht hatten, als sie den Asylanten-Schutzartikel aufnahmen. Es strömen weitgehend unkontrolliert immer weitere Ausländer nach Deutschland, ohne daß es dafür einen ökonomischen Bedarf gebe. Fast jeder Zuwanderer hat in Deutschland Bleiberecht, indem er sich etwa auf die Familienzusammenführung beruft (die dann eine Ketteneinwanderung nach sich zieht, indem das nachgeholte Familienmitglied wiederum Verwandte nachholt), sich als politisch Verfolgter ausgibt (von denen bekanntlich über 90 Prozent keineswegs verfolgt wurden) oder Bürgerkriegsflüchtling ist. Diese Regelungen, die auf der Welt singulär sind, haben zur Folge, daß die Arbeitslosenquote bei Ausländern explosionsartig wächst; zur Zeit ist sie doppelt so hoch wie die der Deutschen und nimmt ständig zu, weil es für die minderqualifizierten Ausländer keine Arbeitsmöglichkeiten im Lande gibt. Seit Mitte der achtziger Jahre sind die Ausländer Netto-Empfänger des Sozialsystems (unter Außerachtlassung der Rente, die die zur Zeit noch jungen Ausländer noch nicht beanspruchen). Bereits 1994 – neuere statistische Angaben liegen noch nicht vor – waren 30 Prozent der Sozialhilfeempfänger Ausländer.

Angesichts des Schwindens der Deutschen – pro Jahr nehmen die Deutschen um 200.000 bis 300.000 Menschen ab – ist für die Deutschen die demographische Katastrophe bereits eingetreten; die Bevölkerungsverluste sind nicht mehr aufzufangen, es sei denn jede deutsche Frau bringt vier Kinder zur Welt, was wohl ausgeschlossen sein dürfte.

Positiv zu werten ist die Einwanderung der Deutschen aus den Ländern des Ostens, die eine hohe Arbeits- und Anpassungswilligkeit aufweisen, doch ergeben sich hier auch Probleme, weil die Deutschen der jungen Generation aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion sich kaum als Deutsche verstehen und in die Isolierung geraten.

Wie werden sich die Deutschen entwickeln? Dazu von Laer: "Es wird weder zu einem fröhlichen noch zu einem friedlichen Miteinander von Ausländern und Deutschen kommen." Wenn die Entwicklung wie bisher weiterverläuft, wwerde es im Jahre 2100 nur noch 15 Millionen Deutsche geben, eine Prognose, die keinen deutschen Politiker zu interessieren scheint.

Der Göttinger Historiker Karlheinz Weißmann beschäftigte sich in seinem Referat mit der Frage: "Was sagen wir unserer Jugend im Zeitalter von Globalisierung und Internet?" Nicht zuletzt aus seiner Erfahrung als Pädagoge kam er zu dem Schluß, daß die heranwachsende Generation nur mangelhafte Erfahrungen mit den Konsequenzen ihrer Handlungen hat. Sie lamentiert, wenn unverantwortliches Tun zu Strafen führt, und ist nicht in der Lage, dann die selbstverursachte negative Situation zu bewältigen. Weißmann sieht die Ursachen für die überwiegend von Weinerlichkeit oder Verstocktheit geprägte Haltung einmal in der elterlichen Erziehung. Die werde nicht selten gelenkt vom schlechten Gewissen der berufstätigen Mütter, die sehr wohl wissen, daß sie durch ihre Selbstverwirklichung den Kindern nicht die ausreichende Zuwendung gewähren können. Wobei allerdings von "Kindern" kaum die Rede sein kann, da es sich überwiegend um Einzelkinder handelt. Es entstehen dann die "Wunschmonster", verwöhnte Gören, denen jeder Wunsch – wiederum aus schlechtem Gewissen der Eltern – erfüllt wird. Den Schulen ist durch die Gesetzgebung jede Möglichkeit genommen, "gegen die verwahrlosten Kleinen, die alles haben und tun wollen", in wirksamer Form vorzugehen. Die Lehrer sind verunsichert. 25 Prozent aller Kinder sind verhaltensgestört. So wächst eine Jugend heran, die nach den Worten eines linken Beobachters "verroht und unerzogen" ist (Claus Leggewie), weil ihr niemals Grenzen gesetzt wurden.

Dabei wissen, wie Weißmann meint, die Jugendlichen sehr wohl, daß das, was sie tun, eigentlich strafwürdig ist. Allerdings sei bloßes Einreden auf sie sinnlos. "Erziehung muß man zu spüren bekommen." Die "industrielle Verspassung unserer Gesellschaft" habe jede Ernsthaftigkeit auch im Umgang mit der Jugend schwinden lassen.

Zur Diskussion um die deutsche Leitkultur meinte Weißmann, es sei zwar richtig, daß Menschen in Deutschland gesetzestreu sein, die Verfassung befolgen und die deutsche Sprache beherrschen müßten, doch fehle bislang in der Diskussion der verlangte Inhalt dieser Kultur. Es müsse jetzt die öffentliche Diskussion darüber beginnen, was deutsche Kultur ausmacht. Um Jugend zu erziehen, so Weißmann, müsse man wissen, was man will, und es auch sagen. Tatsächlich aber stehen die heute tonangebenden 68er Pädagogen hilflos vor den Resultaten ihres Wirkens.

Jeder Vortrag wurde von ausführlicher ergänzender Diskussion begleitet, wobei positiv zu vermelden ist, daß unter den Diskutanten keine Selbstdarsteller auftraten, sondern daß es diszipliniert und klar zur Sache ging, so daß die anschließenden Rundgespräche die Vorträge in erfreulicher Weise ergänzten.

Am letzten Tag des Seminars bildeten sich Arbeitsgruppen, die aus dem Gehörten praktische Hinweise für die Tätigkeit der Staats- und Wirtschaftspolitischen Gesellschaft herausfilterten und dem Plenum unterbreiteten.


 
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