© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/00 17. November 2000

 
BLICK NACH OSTEN
Die Schadenfreude in Moskau
Carl Gustaf Ströhm

Wenn es ein Land gibt, welches den Wirrwarr um die US-Präsidentenwahl mit unverhohlener Schadensfreude betrachtet, dann ist es Rußland mitsamt seiner Führungsschicht. Welche Demütigungen und konstanten Mißerfolge hatten "die Russen" seit dem Ende des Kommunismus und dem Zerfall der Sowjetunion schlucken müssen! Alles Gerede über die "strategische Partnerschaft" mit den USA täuschte nicht darüber hinweg, daß sich die Russen vom Westen hochmütig und herablassend behandelt fühlten.

Ob es die "Kursk"-Katastrophe war, ob es um den Tschetschenienkrieg ging – oder um Tschernobyl: "Die Russen" fühlten sich gegenüber dem "Westen", als habe man ihnen in aller Öffentlichkeit die Hosen ausgezogen. Nun erleben sie erstmals eine "Revanche": Das politische System der USA, das ihnen als großes Vorbild angepriesen wurde, kracht in seinen Fugen. Rußland, das von einem geistreichen Zeitgenossen einst als "gestrandeter Wal" bezeichnet wurde, sieht jetzt, daß auch das transatlantische "Mutterschiff der Demokratie" bedenkliche Schlagseite zeigt und daß zu einem entscheidenden Zeitpunkt in Washington eine entscheidungsschwache Patt-Situation entsteht.

Ganz gleich, wie das große Wahltheater von Florida zwischen Bush und Gore ausgehen mag – irgendwie ist bereits jetzt der Lack ab: der künftige Herr des Weißen Hauses wird in seinem Aktionsradius eingeschränkt und in seiner Autorität, die möglicherweise auf ein paar Dutzend Stimmen Vorsprung beruht, begrenzt sein. Schon hat Präsident Putin verkündet, Rußland sei gerne bereit, den Amerikanern bei der Lösung innerer Schwierigkeiten mit Rat und Tat zur Seite zu stehen – schließlich habe Moskau da seine Erfahrungen.

Die neue Situation in Washington ist für Rußland natürlich eine doppelbödige Angelegenheit – aber ist nicht auch die russische Außenpolitik traditionell doppelbödig? Man braucht die USA – schon um des Geldes willen. Aber man fügt ihnen, wo immer es geht (siehe Serbien und Kosovo) Nadelstiche zu und ermutigt die Westeuropäer (nicht zuletzt die Deutschen), sich von den USA zu lösen oder mindestens zu emanzipieren. Der künftige "schwache" US-Präsident wird möglicherweise nicht mehr die Kraft – oder auch das Interesse – haben, sich in Ost- und Mitteleuropa stärker zu engagieren. Die baltischen Staaten werden wohl noch länger auf die von ihnen dringend gewünschte Nato-Mitgliedschaft warten müssen. Ein mit inneren Problemen ausgelasteter Präsident, ein in einer Fast-Patt-Situation befindlicher Kongreß und eine US-Gesellschaft, die nur noch am Geldverdienen interessiert ist, wird sich schwertun, eine "Führungsrolle" in der Welt auszufüllen. Der groteske US-Wahlkampf hat den Vorhang vor einer oft verdrängten Tatsache heruntergerissen: Die vom Kommunismus und der Sowjethegemonie unterdrückten Völker hatten im Namen der persönlichen Freiheit und des Selbstbestimmungsrechts der Nationen die Mauer eingerissen, in Berlin und anderswo.

Als Ergebnis kam aber nicht der Sieg christlicher Prinzipien und nationaler Freiheiten heraus, sondern plattester Kapitalismus, Profitstreben, Korruption. Ein lettischer Autor schrieb – stellvertretend für die Osteuropäer –, er habe im Exil von einem Lettland geträumt, in welchem junge Mädchen alte Volkslieder singen und nationale Dichter das Volk preisen. Statt dessen begegne er in seiner Heimatstadt Riga Typen, die das Unwort "F***" auf ihren T-Shirts tragen. Folgt im Osten auf die US-Euphorie ein Katzenjammer der Orientierungslosigkeit?


 
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