© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/00 17. November 2000

 
Unsoziale Sozialdemokraten
Rentenreform 2001: Wegfall der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten trifft die Schwächsten
Günter Wiese

Der Streit um die Rentenreform wird für die rot-grüne Regierungskoalition zu einer ernsten Belastungsprobe. Sowohl Arbeitsminister Walter Riester (SPD) als auch die Grünen zeigten sich unmittelbar vor den Spitzengesprächen unnachgiebig. Grünen-Fraktionschefin Kerstin Müller sprach von einem "handfesten Krach" – doch in einem sind sich beide Regierungspartner einig: Bei den Kranken soll gespart werden.

Noch bei seiner Regierungserklärung am 10. November 1998 sagte Kanzler Schröder: "Wir werden den heute in Rente lebenden Menschen ihre Rente sichern und ihnen jedenfalls ihre ohnehin oft geringen Einkünfte nicht kürzen. Denjenigen, die heute in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, sagen wir zu, daß sie damit einen wirksamen und leistungsgerechten Rentenanspruch erwerben. ... (Unsere Renten-) Reform wird ihren Namen verdienen – anders als die Rentenkürzungen ..., die wir noch in diesem Jahr aussetzen." Und zuvor im Wahlkampf sagte er, daß der geplante Demographiefaktor, der von ihm als "sozialer Kahlschlag" gebrandmarkt wurde, unsozial und unanständig sei. Daher wurde die Blümsche Rentenreform zunächst rückgängig gemacht.

Doch nach dem neuen "Diskussionsentwurf zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung des Aufbaus eines kapitalgedeckten Vermögens zur Altersvorsorge" sowie dem "Diskussionsentwurf eines Gesetzes zur Reform der Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit" ist von den Wahlversprechen nichts mehr übrig. Vielmehr droht ein Systemwechsel. Es werden zwei Entwürfe vorgelegt, weil die Rentenreform nicht mehr – wie versprochen – zum Januar 2001 in Kraft treten kann. Die neue Struktur der Erwerbsunfähigkeitsrenten (EU) muß jedoch zum Januar 2001 in Kraft treten, weil sonst die alte, 1999 zurückgezogene Änderung, wieder gültig würde.

Neben der Rückkehr zur Netto-Lohn-Anpassung sind die wesentlichsten Inhalte die geänderten bzw. neuen Vorschriften über den Ausgleichsfaktor, der Auskunftsservice der Rentenversicherungsträger, die Besserstellung der Frauen, die betriebliche Altersversorgung, die Erwerbsminderungsrente (früher EU-Rente), die Hinterbliebenenversorgung, die kapitalgedeckte zusätzliche Altersvorsorge, die Sozialhilfeleistungen und die Versorgung im Beamtenrecht.

Die vorgesehenen Änderungen im bestehenden Rentenrecht machen die beiden Gesetze so umfangreich (186 bzw. 99 Seiten), daß sie nicht in einer einzigen Zusammenfassung dargestellt und untersucht werden können. Am einschneidendsten ist die Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit: Bislang gab es neben einer Berufsunfähigkeits(BU)- auch eine EU-Rente. Anspruch haben Versicherte, die das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, berufs- oder erwerbsunfähig sind und in den letzten fünf Jahren mindestens für drei Jahre Pflichtbeiträge gezahlt haben sowie die "allgemeine Wartezeit" von fünf Jahren erfüllt haben. Diese Voraussetzungen sind nicht nötig, wenn die BU bzw. EU etwa wegen eines Arbeitsunfalles eingetreten ist.

Berufsunfähig ist, wer infolge von Krankheit oder Behinderung weder in seinem noch in einem ihm zumutbaren Beruf halb so- viel leisten und verdienen kann wie gesunde Berufstätige mit ähnlicher Ausbildung, gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten. Die sich dadurch ergebende Minderung des Einkommens soll mit der BU-Rente ausgeglichen werden. Erwerbsunfähig ist, wer auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit nur unregelmäßig ausüben kann oder aus seiner Tätigkeit nur geringfügiges Arbeitsentgelt (630 Mark monatlich) erzielen kann. Bei der Beurteilung kommt es entscheidend darauf an, ob dem Versicherten ein leistungsgerechter (Teilzeit-)Arbeitsplatz angeboten werden kann. Bei einem Versicherungsfall vor dem 55. Lebensjahr wird die fehlende Zeit bis zum 55. Lebensjahr als rentensteigernde beitragsfreie Zeit zu den vorhandenen Zeiten hinzugerechnet. Die Rentenhöhe entspricht der eines 55jährigen.

Die Neuordnung ab 2001 ersetzt die BU/EU-Renten durch ein abgestuftes System einer Erwerbsminderungsrente (EM). Es wird also Renten wegen teilweiser und voller Erwerbsminderung geben. Der erlernte Beruf spielt künftig keine Rolle mehr. Es kommt vielmehr darauf an, ob der Versicherte aus gesundheitlichen Gründen weniger als drei oder zwischen drei bis unter sechs Stunden täglich einer Erwerbstätigkeit nachgehen kann und die konkrete Arbeitsmarktlage es zuläßt, dem Versicherten einen seinem eingeschränkten Leistungsvermögen entsprechenden Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen.

Kann ein Versicherter nur noch weniger als drei Stunden arbeiten, erhält er die volle EM-Rente, bei drei bis unter sechs Stunden erhält er den halben Zahlbetrag, und bei einer Leistungsfähigkeit von mindestens sechs Stunden steht ihm keine EM-Rente zu. Die anderen, oben aufgelisteten Voraussetzungen bleiben unverändert bestehen.

Neu ist auch, daß die EM-Renten nur noch als Zeitrenten für längstens drei Jahre gewährt werden. Die Befristung entfällt nur dann, wenn keinerlei Aussicht auf Besserung des Gesundheitszustandes besteht. Im Gegensatz zu dem bisherigen Recht sehen die neuen Vorschriften eine echte Einkommensanrechnung vor. Sämtliche Einkommen – wie Vorruhestands-, Kranken- und Übergangsgeld sowie weitere Sozialleistungen – werden neben dem Arbeitseinkommen auf eine teilweise EM-Rente angerechnet. Bei der Anrechnung wird nur ein individueller Freibetrag – mindestens 630 Mark – berücksichtigt. Bei einer Rente wegen voller EM bleiben bestimmte Sozialleistungen bei der Anrechnung außer Betracht.

Die bereits vorgesehenen Abschläge bei Inanspruchnahme der Rente vor Vollendung des 63. Lebensjahres bleiben bestehen und gelten ab dem Jahre 2001. Für jeden Monat einer früheren Inanspruchnahme beträgt der Rentenabschlag 0,3 Prozent. Der höchstmögliche Rentenabschlag beträgt jedoch 10,8 Prozent. Die Zurechnungszeit wird verbessert, indem die Zeit bis zum 55. Lebensjahr wie bisher voll und vom 55. bis zum 60. Lebensjahr zu zwei Dritteln (40 Monate) als rentensteigernde beitragsfreie Zeit zu den tatsächlich vorhandenen Zeiten hinzugerechnet wird.

In bestehende BU/EU-Renten wird nicht eingegriffen; sie werden solange nach altem Recht weitergezahlt, wie die Voraussetzungen hierfür bestehen. Versicherte, die bei Inkrafttreten der Reform bereits das 40. Lebensjahr vollendet haben, können aus Gründen des Vertrauensschutzes auch künftig eine Rente wegen Berufsunfähigkeit erhalten, jedoch nicht mehr in Höhe von 66 Prozent der Altersrente, sondern nur noch in Höhe von 50 Prozent.

Äußerst fragwürdig an der Rentenreform ist, daß Verschlechterungen ausgerechnet bei den Renten vorgenommen werden, die kranke und leistungsgeminderte Versicherte betreffen. Es wäre sicherlich sinnvoller, bei den medizinischen Gutachten strengste Maßstäbe anzulegen, um den Mißbrauch von Vorschriften zu verhindern. Als völlig unverständlich abzulehnen sind die vorgesehenen Rentenabschläge bei den EM-Renten, weil der Renteneintritt nicht auf persönlicher Entscheidung des Versicherten beruht, sondern wegen gesundheitlicher Einschränkungen erfolgt. Der Gesetzgeber sollte zur Kenntnis nehmen, daß kranke Arbeitnehmer sich nicht zur Ruhe setzen, sondern den Kampf um den Lebensunterhalt mit geringeren Mitteln fortsetzen.

Auch der Verweis an eine private BU-Versicherung ist einem 35- bis 40jährigen oftmals nicht möglich, denn die privatwirtschaftlichen Versicherungsunternehmen schließen ihre Verträge nur mit "Gesunden" ab – ein Kontrahierungszwang existiert nur in der Kfz-Versicherung. Ein 39jähriger Bauarbeiter ist – wie in der privaten Krankenversicherung – wohl kaum noch zu versichern, die gleichaltrige Büroangestellte hingegen wird gern "genommen". Hier wäre der Gesetzgeber gefragt – vor allem der "sozial"-demokratische.


 
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