© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/00 17. November 2000

 
Waldgänger und Gottsucher
Zur Veröffentlichung von Gerhard Nebels Essaysammlung "Schmerz des Vermissens"
Baal Müller

Vielleicht war es eine ihm eingewurzelte Neigung zur Widersprüchlichkeit, ein faustisches Doppelseelentum, das ihn immer alles oder nichts, und manchmal beides zusammen, fordern ließ: Gerhard Nebel bewegte sich sein Leben lang zwischen Nähe und Ferne, Weltlichkeit und Gottessuche, "Weinrausch und Unendlichkeit".

Er durchwanderte das jeweils Nächste, wie den Wald seiner anhaltischen Heimat an der Hand des bald verstorbenen Vaters oder später die ägyptischen Wüsten, er durchlitt und durchstritt das Nächste, etwa als Schläger und Straßenkämpfer in den späten Jahren der Weimarer Republik oder als unfreiwillig eingezogener Soldat, und er suchte dabei immer das Fernste: die Reste von Transzendenz in einer gottentfernten Welt, die er in überlieferten Riten oder in Archetypen des Bewußtseins, in der kultischen Dichtung von Antike und Neuzeit zu finden glaubte.

So fest hielt er das Gefundene manchmal und so höhnisch und grimmig streckte er es wie ein Schutzschild seinem Jahrhundert entgegen, daß man glaubt, er sei sich seines wiedererrungenen transzendentalen Obdachs doch nicht immer ganz sicher gewesen. Homer, Pindar, Hamann, Ernst Jünger, dessen Freund und Mitstreiter er gewesen ist, waren solche Schutzschilde und Gewährsmänner, denen er Bücher und Essays widmete, und auch Stefan George, in dessen Heidelberger Umkreis sich der 1903 geborene und früh verwaiste Nebel während seines Studiums der Philosophie und Altphilologie bewegte. Weitere Studienorte waren Freiburg, Marburg und Köln, wo er bei Husserl, Heidegger, Jaspers und Nicolai Hartmann studierte.

Vor allem Heidegger beeindruckte ihn durch die existenzielle Radikalität seines philosophischen Fragens; von ihm lernte er eine jeden Historismus zurückweisende aneignende Vergegenwärtigung des antiken Philosophierens und wurde in seiner dezisionistischen, Entscheidung und Stellungnahme fordernden Haltung bestärkt. Nach seiner Promotion arbeitete er zunächst als Lehrer, führte aber ein unstetes, von häufigen Wohnungswechseln und längeren Reisen geprägtes Leben. In den späten zwanziger Jahren näherte sich Nebel dem Marxismus an; er ergriff zunächst für die Sozialdemokratie Partei, trennte sich aber nach Papens Staatsstreich von ihr, die er fortan als spießbürgerlich und kleinlich verachtete, und wurde Mitbegründer der Sozialistischen Arbeiterpartei. In seinen noch unveröffentlichten Lebenserinnerungen schrieb er über diese Zeit der Radikalisierung und ideologischen Mobilmachung: "Ich wurde in den letzten Monaten der Weimarer Republik ein wüster Hasser und Schläger, wobei mir die im Boxring erworbene Muskelkraft und Reaktionsschnelle zugute kamen. Wir, die Kölner SAP, marschierten innerhalb eines großen Demonstrationszuges der kommunistischen Partei, ich zog mehrmals in Blocks des Roten Massenselbstschutzes dahin, des Ersatzes für den verbotenen Roten Frontkämpferbund, nicht mehr ‚Rot-Front’, sondern ‚Heil Moskau’, ich nahm mit tiefer Befriedigung an Saalschlachten teil."

Die eigenartige Formulierung, "mit tiefer Befriedigung" – und nicht etwa nur mit Leidenschaft und hitzigem Vergnügen – "an Saalschlachten" teilgenommen zu haben, läßt das hinter Nebels kämpferischem Aktivismus stehende metaphysische Bedürfnis erahnen. Mehrere Ereignisse sollten ihm Anfang der dreißiger Jahre zum Durchbruch verhelfen: der Tod seines jüngeren Bruders und damit der endgültige Verlust seines familiären Herkommens, die neuerliche Beschäftigung mit George, dessen stolze Einsamkeit und jeden Annäherungsversuch des Nationalsozialismus abweisende Haltung ihn tief beeindruckten, und die Lektüre Ernst Jüngers, den er 1941 anläßlich der berühmten Pariser Georgs-Runden von Oberst Hans Speidel auch persönlich kennenlernte.

Auf einer längeren Ägyptenreise widerfuhr Nebel im Angesicht der menschenfeindlichen Einsamkeit der Wüste eine als religiöse Offenbarung geschilderte Einsicht in die Ohnmacht und Unwissenheit des Menschen, die er in Ödipus und Orest verkörpert sah, sowie in die von Herakles symbolisierte Mittlerschaft des halbgöttlichen, heroischen Menschen, und er glaubte schließlich diese im griechischen Mythos formulierten Momente in Jesus Christus gesteigert und vereinigt. Ähnlich der Auffassung Nietzsches, der den Gekreuzigten mit dem zerstückelten Dionysos identifizierte, vermeinte auch Nebel im Christentum jetzt nicht mehr die Ablösung, sondern die Vollendung des antiken Mythos zu erkennen.

Antike und Christentum als letztlich einheitliche abendländische Tradition, die aber in der Moderne einer weitgehenden Zerstörung anheimgefallen sei, bilden fortan den geistigen Hintergrund der umfassenden schriftstellerischen Produktion, die Nebel seit seinem Erstling "Feuer und Wasser" von 1939 bis zu seinem Tode 1974 entfaltet.

Einige seiner Essays aus den Büchern"Von den Elementen" (1946), "Zeit und Zeiten" (1965), "Sprung von des Tigers Rücken" (1970) und "Hamann" (1973) wurden nun unter dem Titel "Schmerz des Vermissens" neu vorgelegt. Dieser Titel ist insofern mißverständlich, als der Verlust für Nebel nicht die letzte Grunderfahrung des Daseins ist, trotz seiner häufigen Klagen über kulturellen Verfall, wissenschaftliche Entzauberung und technische Vernutzung der Erde sowie die Nivellierung von Personalität "zum Körnchen des finalen Sandhaufens, zum Menschen der Abgeschliffenheit und Egalité".

Manchmal läßt sich der späte Nebel in seiner Zivilisations- und Fortschrittskritik zu einer Polemik hinreißen, die seiner metaphysisch beheimateten und die Niederungen des Politischen verachtenden Waldgänger- und Gottsucherexistenz nicht immer gut zu Gesichte steht, insgesamt aber überwiegen Optimismus und Daseinsfülle auch in einer als spät und dürftig erfahrenen Zeit. Besonders deutlich belegen sein Vertrauen auf den Kairos, den göttlich erfüllten Augenblick, die Zeitanalysen in "Jetzt und Augenblick". Sowohl die chronometrische Zeit, die mathematische Meßzeit, die den Strom der Zeitlichkeit in gleiche Intervalle zerteilt und schon am Übergang von einem zum nächsten versagt, als auch die erlebte Zeit des Bewußtseins, die immanente Zeitlichkeit Bergsons und Diltheys, der Dichtung von Proust und Joyce, werden von Nebel als unzureichende Modelle zurückgewiesen. Nicht im Nacheinander der gemessenen oder erlebten Zeit, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft, die beide nicht mehr oder noch nicht sind, sondern in der Gegenwart sieht er das Wesen der Zeitlichkeit: "Das Jetzt ist das Nichts seiner selbst" – insofern es keine Dauer besitzt und im Moment seiner Wahrnehmung sofort verschwindet – "und dennoch votiert es vernehmlich für sein eigenes Sein. Sein Nichtsein ist der Ort, an dem sich alles Sein trifft". Nur in der Gegenwart fallen für Nebel Nichts und Sein zusammen: das Nichts der ausdehnungslosen, flüchtigen Punktualität und das Sein der Präsenz, die jedes Seiende innehaben muß. Insofern das Jetzt den Zeitstrom transzendiert, um gleichsam ein neues Strömen beginnen zu lassen, eignet ihm ein Moment der Freiheit und Ursprünglichkeit, eine Offenheit, die es aus der Kette der Notwendigkeit herauslöst und ihm in Nebels Augen eine göttliche Dimension verleiht: Das Heraustreten aus der Zeit, die (wörtlich verstandene) Ekstase, ist somit zugleich der Einbruch des ganz Anderen, Göttlichen, dem heidnisches Fest und christliches Gebet gelten.

Mag Nebels Ansicht, daß sich im ersteren eine rituelle Wiederholung des Ursprungs vollzieht, angesichts der Forschungen von Bachofen, Adorno, Eliade und anderen plausibel erscheinen, so wirkt seine Hypothese von einem Aufruhen der christlichen Lehre auf antiker Mythologie und Lebensform etwas sprunghaft und nicht überzeugend; zu drängend scheint Nebels Sehnsucht nach einer Einheit und Kontinuität der abendländischen Überlieferung zu sein, so daß er die Brüche und Diskontinuitäten übersieht, die nicht erst mit der Moderne in die Welt treten.

 

Gerhard NebeL: Schmerz des Vermissens. Essays. Ausgewählt von Gerald Zschorsch. Mit einem Nachwort von Sebastian Kleinschmidt. Klett-Cotta, Stuttgart 2000, 286 S., 39,80 Mark


 
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