© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/00 24. November 2000

 
PRO&CONTRA
Brauchen wir eine europäische Verfassung?
Dr. Peter Leibenguth-Nordmann / Alfred Mechtersheimer

Auf dem EU-Gipfel Mitte Dezember im südfranzösischen Nizza wird – ein vorzeitiges Weihnachtsgeschenk für alle Europäer – die "Charta der Grundrechte der Europäischen Union" feierlich proklamiert. Über ihre Bedeutung als Summe des gegenwärtig in Europa erreichten Standes wie Standards an politischen und sozialen Menschenrechten kann es, bei aller Kritik in einzelnen Aspekten, einen vernünftigen Streit nicht geben. Gegenüber dem jetzigen Zustand – welche konkreten Rechte der Einzelne, ob Bürger oder Unternehmer, in der EU hat, bleibt im Dickicht des EU-Vertragsrechts verborgen und muß vom EuGH in Luxemburg durch fallweise Einzelentscheidung ermittelt werden – ist die Charta von Nizza als bedeutende Etappe auf dem Wege zur Europäisierung des Rechtsstaats zu begrüßen.

Wenn heute mehr als die Hälfte aller uns Bürger unmittelbar betreffenden Gesetze auf Brüsseler Richtlinien und Verordnungen beruhen, dann wird die Frage unausweichlich: Woher bezieht die Europäische Union eigentlich ihre Legitimität? Europa braucht, will es zur Sache aller werden, greifbare Identität; ohne Symbol und Mitte keine res publica europea. Diese kann nur in einer Verfassung bestehen. Wir werden unsere nationale Identität behalten – eine europäische Loyalität kann sich wohl nur als "Verfassungspatriotismus" entfalten. Ohne diesen Kitt einer Verfassung, die dem Vertragswerk der Staaten Form und Format verleiht, wird die Europäische Union ihrer Rolle als eines der "wichtigsten Zentren der globalen Architektur" (Werner Weidenfeld) im 21. Jahrhundert kaum genügen können. Ohne klare konstitutionelle Festlegung der Zuständigkeiten und ohne eindeutige Definition der "checks and balances" in einer so dringend benötigten europäischen Konstitution kann auch das Werk der Vollendung Europas nicht gelingen – auf das wir seit dem Zusammenbruch des alten, des antagonistischen Europa so sehr hoffen. Kurz – wer die Osterweiterung will, der muß ein demokratisch legitimiertes "Verfassungseuropa" wollen!

 

Dr. Peter Leibenguth-Nordmann ist Leiter der Europäischen Staatsbürger-Akademie (ESTA) in Bocholt.

 

 

Die Forderung nach einer europäischen Verfassung ist im Grunde die Aufforderung zum Verfassungsbruch. Denn das Grundgesetz wäre dann nicht mehr wert als die Verfassungen der deutschen Bundesländer. Der Karlsruher Richter Paul Kirchhof warnt vor der Selbstentmachtung des deutschen Verfassungsgebers und des demokratischen Souveräns.

Was für den einen Gefahr, ist für den anderen Absicht. So etwa für Joschka Fischer, der in seiner Berliner Rede vom 12. Mai dieses Jahres mit "Föderation", "Subsidiarität" und "Souveränitätsteilung" geschickt drapiert den europäischen Superbundesstaat propagierte, mit einem direkt gewählten Präsidenten und natürlich einer gemeinsamen Verfassung.

Doch Fischers Motive sind nicht pro-europäisch, sondern anti-deutsch. Seine Ideologie: Die Westbindung ist die unerläßlicheRückversicherung "gegen den deutschen Nationalismus". Doch zum Glück ist der Einfluß der deutschen Politiker in der EU nicht so groß, wie diese meinen. So bleibt wahrscheinlich auch der Wunsch von Ex-Bundespräsident Roman Herzog unerfüllt, wonach die unter seinem Vorsatz erarbeitete "Charta der Grundrechte der Europäischen Union" zu einem "Teil der Verfassung des Europas von morgen" werden soll.

Diese EU-Charta, die von den 15 Staats- und Regierungschefs im Dezember in Nizza feierlich proklamiert werden wird, ist nicht justiziabel. Sie nützt dem Bürger wenig, schadet aber auch nicht. Eine Verfassung für Teil-Europa wäre unnütz und schädlich. Zumal für Deutschland, das im Zuge der Vereinigung im Grundgesetz das Streben nach seiner nationalen Einheit durch das Bekenntnis zu einem vereinten Europa ersetzt hat. Das europäische Grundgesetz macht eine europäische Verfassung überflüssig. Das Volk braucht eine Verfassung, die europäischen Völker brauchen Verträge.

 

Alfred Mechtersheimer ist Gründer und Leiter des Friedenskomitee 2000 in Starnberg.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen