© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/00 24. November 2000

 
Familienpolitik unter Freunden
CSU-Parteitag: Ungarns Ministerpräsident und Österreichs Bundeskanzler erhielten von den rund 1.000 Delegierten starken Beifall
Carl-Gustaf Ströhm

D em österreichischen Botschaf ter a.D. Johann Josef Dengler müssen am 18. November die Ohren geklungen haben – denn da fand in München der Parteitag der Bayerischen CSU statt, auf dem ein Thema aufgegriffen wurde, welches Dengler seit Jahren seinen Landsleuten und den Wiener Politikern nahezubringen versucht: die Dringlichkeit einer neuen Familienpolitik. Wegen seiner "Kapuzinerpredigten" über die nicht verstandene Rolle der Familie in der "Gesellschaft" ist der Ex-Botschafter oft belächelt worden, als pflege er eine Marotte, wenn er vor den verheerenden Folgen der Kinderlosigkeit in Österreich oder Deutschland warnte. Sogar seine eigene Partei, die ÖVP, zeigte für dieses Thema kein echtes Verständnis.

Doch auf dem CSU-Parteitag erhielt Dengler Unterstützung von drei Staatsmännern Mitteleuropas und von einer prominenten Oppositionsführerin – in erster Linie vom CSU-Chef und bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber. In seiner Parteitagsrede warnte Stoiber vor einem, "dramatischen demographischen Wandel" in Deutschland. Er sprach von einer "demographischen Zeitbombe" und davon, daß den Deutschen "der Boden unter den Füßen wegzurutschen drohe", weil heute jede Frau in Mitteleuropa im Schnitt nur noch 1,3 Kinder zur Welt bringe, während mindestens zwei bis drei Kinder notwendig seien, um ein demographisches Gleichgewicht zu halten.

Während drei arbeitsfähige Deutsche einen Renter (im Rahmen des Generationenvertrages) unterhalten müßten, werde sich das in etwa dreißig Jahren grundlegend ändern, dann werde ein Arbeitsfähiger einen Pensionisten unterhalten müssen. Schon heute mache sich unter den Deutschen ein Mangel an Fachkräften, an jungen Unternehmern, Forschern und sonstigem hochqualifizierten Personal bemerkbar, warnte Stoiber.

Die CSU scheint entschlossen, das Steuer der deutschen Familienpolitik radikal herumzuwerfen. "Wer wird die Stimme für die Familie erheben, wenn nicht wir?" hieß es auf dem Parteitag. Gleichzeitig distanziert sich die bayerische Schwester der CDU deutlich von der "Homo-Ehe": Das Leitbild des 21. Jahrhunderts könne nicht eine "Beliebigkeit des Zusammenlebens" sein.

Während des Kongresses, der erstmals wie eine Multi-Media-Schau ablief, kamen aus dem Plenum zahlreiche Delegierte zu Wort, die sich kritisch über die gegenwärtige Lage der Familie in Deutschland äußerten. Es gebe nur wenig Kinder in dieser Gesellschaft, sagte einer von ihnen, "weil nur noch derjenige zählt, der Geld hat".

CSU steuert radikale Wende in der Familienpolitik an

Zugleich präsentierte die CSU in einer Reihe von Interviews jenen Frauentyp, der offenbar als Leitbild betrachtet wird: Da kamen Mütter von mehreren Kindern zu Wort, die sich zu ihrer Rolle als Mutter bekannten und erzählten, wie sie es trotz harter beruflicher Arbeit – darunter war eine Bäuerin mit vier Kindern – geschafft hätten, ihren Nachwuchs großzuziehen. Offenbar propagierte die CSU hier einen neuen, durchaus emanzipierten, aber eben nicht "emanzenhaften" Frauentyp: selbstbewußt, aber auch familienbewußt, kinderfreundlich und in gewisser Weise "in sich ruhend". Um den Reigen komplett zu machen, stieß auch die selbst kinderlose CDU-Vorsitzende Angela Merkel in das gleiche Horn und forderte mehr "Kinderfreundlichkeit" für Deutschland.

Als dann der österreichische Kanzler Wolfgang Schüssel das Wort ergriff, fand sich bei ihm an prominenter Stelle ein Bekenntnis zur Familie – und zwar in einer sehr persönlichen, menschlich berührenden Art. Er sei schon deshalb für die Familie, sagte er vor den CSU-Delegierten, weil er als Kind sehr unter der Scheidung seiner Eltern gelitten habe.

Ihm folgte als Gastredner der junge Premier Ungarns, Viktor Orbán, gleichfalls ein Familienvater. Orbán erklärte, auch für Ungarn, welches unter ähnlichen demographischen Problemen leide, seien Familien mit mehr Kindern wichtig. Wenn Europa im 21. Jahrhundert bestehen wolle, müßten, so Orbán, drei Säulen gestärkt werden: Arbeit, Familie und die Nationen.

Aber auch bei anderen brennenden Themen bezogen Stoiber und die CSU, von denen man manchmal schon meinen konnte, sie hätten sich von der rot-grünen Macht und dem Linkstrend den Schneid abkaufen lassen, überraschend deutlich Stellung. So bekannten sich sowohl Stoiber wie CDU-Chefin Merkel zur legitimen Existenz einer demokratischen Rechten als Pendant zur demokratischen Linken. CDU-Chefin Merkel war von der bayerischen Atmosphäre offenbar derart fasziniert, daß sie sogar in der kontroversen Debatte um den Begriff "Leitkultur" einen Vers zum besten gab: "Von rotem Faden keine Spur – dem Schröder fehlt die Leitkultur!" Weiter sagte Frau Merkel, die CDU lasse sich von Schröder nicht vorschreiben, worüber sie sprechen und diskutieren dürfe.

"Wir Ungarn sind Europäer durch unsere eigene Nation"

Stoiber erwies sich als veritables Mitglied des seinerzeit von Franz Josef Strauß apostrophierten "Vereins für die deutsche Aussprache". Er forderte, man müsse die Zuwanderung von Ausländern nach Deutschland begrenzen und den "Mißbrauch des Asyls" verhindern. Im Blick auf das Ausländerproblem sagte er, es gehe nicht an, "aus lauter politischer correctness die Realität zu leugnen".

"Wir wollen keine multikulturelle Gesellschaft mit der daraus entstehenden Ghettoisierung", bemerkte er und zitierte den 68er Linken Cohn-Bendit, der einmal gesagt habe, die multikulturelle Gesellschaft sei "grausam, hart und wenig solidarisch". Auch erinnerte Stoiber daran, daß die Mehrheit der Deutschen nicht links, sondern politisch zwischen "Mitte und Mitte rechts" beheimatet sei.

Die Nation, so Stoiber, sei auch in Zukunft von entscheidender Bedeutung. Ein soziales Gleichgewicht könne heute und in absehbarer Zukunft nur auf nationaler Ebene geschaffen werden. Stoiber wörtlich: "Ich bin fest davon überzeugt, daß dem Nationalstaat auch in Zukunft eine Schlüsselfunktion in Europa zukommt ... Die Nation ist auf absehbare Zeit die größte Einheit, mit der sich die Menschen identifizieren können." Die kleinen Länder Europas dürften nicht das Gefühl bekommen, so Stoiber, "daß in Europa nur die Großen bestimmen". Die "Kleinen" dürften nicht zu "Mitgliedern zweiter Klasse" degradiert werden. Die Bayern würden einen EU-Zentralismus nicht zulassen. Und ferner: Man müsse die "Leitkultur" über die Ökonomie stellen. Schließlich wurde Stoiber überdeutlich: Europa, so sagte er, sei nicht grenzenlos. Man könne in Europa nicht "alle" aufnehmen – und man könne Europa nicht bis zur iranischen Grenze ausdehnen.

ÖVP-Chef Schüssel wurde von den CSU-Delegierten mit größter Herzlichkeit begrüßt – und auch er setzte die Linie Stoibers fort. In der Demokratie entscheiden die Wähler, nicht aber die "Drehbücher linker Spin-Doktoren". In der Demokratie könne man darüber streiten, was richtig und falsch sei– nicht aber darüber, was "gut" und was "böse" sei. Man müsse "weg von der political correctness", weil die Verdammung des politischen Gegners der erste Schritt zu seiner Ausmerzung und Vernichtung sei.

Indirekt verteidigte Schüssel die Haltung seines Koalitionspartners FPÖ. Wer sich um Europa Sorgen mache, sei noch lange kein Feind der europäischen Integration und wer sich einem EU-Zentralismus widersetze, noch lange kein "dumpfer Provinzler". Er, Schüssel, sei für Europa, aber gegen einen "europäischen Super-Staat". Am Vorabend der Nizza-Konferenz müssen die Fragen geklärt werden: Was soll Europa sein? Welche Rolle sollen die Nationalstaaten und welche die Regionen übernehmen? Er halte nichts von einer "europäischen Avantgarde" (wie sie Außenminister Fischer zwischen Frankreich und Deutschland vorgeschlagen habe). Jedes EU-Mitglied, forderte Schüssel, müsse "Sitz und Stimme in jeder europäischen Instituation haben". Es gebe Bereiche, wo Österreich auf das Prinzip der Einstimmigkeit in der EU unter keinen Umständen verzichten wolle: etwa auf dem Gebiet der Vertragsänderungen, der Finanzen sowie "wenn es um Dinge geht, die national wichtig sind, wie Raumordnung und Wasserrecht".

Sehr verwundert zeigte sich Schüssel, daß in Deutschland die Frage der "Leitkultur" derart kontrovers diskutiert werde. Franzosen, Skandinavier und andere Europäer bekennten sich unbefangen zu ihrer Tradition. Auch Deutschen und Österreichern täte hier mehr Selbstbewußtsein gut – gerade, wenn man weltoffen sein wolle. Schüssel plädierte für ein "neues Verhältnis zu uns selber".

Einen besonderen Akzent setzte Viktor Orbán: "Wir sind eine Mitte-Rechts-Partei", umriß der ungarische Premier die Position seiner Fidesz-Bürgerpartei und fügte hinzu: "Ähnlich wie die CSU." Ungarn liege im Herzen Europas und sei seit tausend Jahren ein europäischer Staat. Wörtlich: "Wenn ein Ungar das Wort Europa hört, dann denkt er so an Europa wie an die Taschenuhr, die seinem Großvater von russischen Soldaten weggenommen wurde." Weiter sagte Orbán: "Wir Ungarn brauchen keine neue europäische Identität, wir sind Europäer durch unsere eigene Nation." Ungarn müsse Europa nicht erst "beitreten", sondern es werde sich mit ihm "wiedervereinigen". Europa aber sei kein Schmelztiegel, sondern lebe in der Vielfalt seiner Nationen – einer Vielfalt, die bewahrt werden müsse. Wenn die europäischen Staaten durch Brüssel geschwächt würden, müßte man um so mehr die Nationen stärken.

War es Zufall oder Absicht, daß der Auftritt des ungarischen Regierungschefs bei der CSU von den deutschen Medien entweder marginalisiert oder ganz totgeschwiegen wurde? War es Zufall, daß die Berichterstattung aus Nürnberg sich meist auf eher vordergründige machttaktische Aspekte beschränkte, während die hier mit aller Deutlichkeit angesprochenen großen Fragen elegant (oder auch weniger elegant) umgangen wurden? Man möchte es fast nicht glauben: Stoibers Mannschaft geht aus der Defensive zum Gegenangriff über, und zwar mit internationaler Unterstützung "Österreich-Ungarns". Die Phalanx Bayern-Österreich-Ungarn stellt jedenfalls eine interessante und nicht zu unterschätzende Kombination dar.


 
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