© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/00 24. November 2000

 
Wissen ist mehr als ein Produktionsfaktor
Bund Freiheit der Wissenschaft: Bildung nicht den Kapitalinteressen opfern
Peter Witthöft

Bildung in der Wissensgesellschaft" lautet das Thema des bildungspolitischen Forums, zu dem der "Bund Freiheit der Wissenschaft" Ende Oktober nach Berlin eingeladen hatte.

Winfried Holzapfel, Oberstudiendirektor aus Kevelaer und derzeit Vorsitzender des "Bund Freiheit der Wissenschaft", wies in seiner Einleitung auf Chancen und Gefahren des rasanten technischen Fortschritts hin, auf die auch und gerade die Bildung reagieren müsse. Bei aller Einsicht in die Notwendigkeit einer Modernisierung unseres Bildungssystems gelte es, an bewährten Prinzipien festzuhalten. Neben Geschichtsbewußtsein, solidem Wissen und Leistung müsse die Persönlichkeitsbildung von Erziehenden und zu Erziehenden gewährleistet sein. Schüler und Studenten müssen in die Lage versetzt werden, Verantwortung für sich selbst und die res publica zu tragen.

Der Latinist Manfred Fuhrmann (Universität Konstanz), Autor des unlängst erschienenen Buches "Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters" (siehe JF 28/00), erläuterte zunächst die Herausbildung der europäischen Bildungsideen und des abendländischen, christlich-humanistischen Bildungskanons. Dieser sei durch die Oberstufenreform zerschlagen worden. Es habe sich eine Abkehr von der klassischen Bildungsidee vollzogen, wie sie radikaler nicht sein könnte. Die Kategorien Person, Geist und Kultur seien durch Gesellschaft, Einkommen und soziale Gerechtigkeit ausgetauscht worden. Es herrsche eine Ideologie des sozialen Neides. Von Eliten dürfe nicht gesprochen werden.

Arnd Morkel (Trier) stellte in seinem Referat über "Bildungsgesellschaft contra Wissensgesellschaft" an den Anfang seiner Ausführungen die Frage, ob die Wissensgesellschaft ein neues Konzept von Bildung benötige. Er wandte sich gegen die Illusion, die derzeit vielbeschworene Medienkompetenz könne andere Grundfertigkeiten ersetzen. Vielmehr müsse sie zu solchen hinzutreten. Auch auf die Gefahren, die etwa in der Nutzung von Rechtschreibprogrammen liegen, wies er hin. Morkel hob die unverminderte Bedeutung von Eigenschaften wie Fleiß und Konzentrationsfähigkeit, auf denen die Fähigkeit zum Lernen beruht, hervor.

Morkel kritisierte den Trend zu einer ausufernden "Flexibilisierung" des Studiensystems, die zunehmend an die Stelle bislang relativ streng reglementierter Studiengänge tritt. In diesem Zusammenhang sprach er von Patchworkstudium. Ginge es beim Studium nur um Wissenserwerb, wäre diese Entwicklung vielleicht hinnehmbar. Aber zum gründlichen Studium eines Faches gehörten eben auch Kenntnisse der historischen, philosophischen und sozialen Bezüge, der spezifischen Methodik und Hintergrundwissen. Alles andere sei nichts Halbes und nichts Ganzes, etwa ein "Friedensforscher". Doch Bildung weise eben über das bloß Nützliche hinaus. Sie sei das Gegenteil einer Ausbildung zum Funktionär, sondern wolle zur Selbstbestimmtheit befähigen.

Schüler und Studenten als Kunden zu betrachten, die eine Dienstleistung nachfragen, sei Ausdruck einer einseitigen Konsumorientierung. Dabei müßten die "Kundenwünsche" zwangsläufig in Widerspruch zum staatlichen Bildungsauftrag stehen. Ein zu großer Einfluß von privaten und wirtschaftlichen Interessen müsse abgewehrt werden.

Auch Jürgen Oelkers, ein namhafter, an der Universität Zürich lehrender Bildungshistoriker, griff in seinem Beitrag "Schulentwicklung, Demokratie und Bildung" Fehlentwicklungen im Schul- und Hochschulbereich scharf an. Die gebetsmühlenartige Beschwörung sogenannter Schlüsselqualifikationen und "sozialer Kompetenzen" sei größtenteils nichts anderes als "pädagogisches Geschwätz" und Worthülsen.

Der Gegensatz von Partizipation und Profession an Bildungseinrichtungen müsse eindeutig zugunsten der Profession entschieden werden. Schließlich sei nicht denkbar, daß Schüler und Studenten gleichberechtigt an Entscheidungen über Bildungsinhalte und -verfahren beteiligt würden, ehe sie durch diese die für solche Entscheidungen erforderliche Kompetenz erworben hätten. Insbesondere müßten zentrale gesellschaftliche Werte verbindlich sein. Sie dürften nicht zur Disposition gestellt oder zerredet werden.

Der Vortrag von Josef Kraus (Landshut), Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, rundete das Forum aus der Perspektive der schulischen Praxis ab. Für ein rohstoffarmes Land wie Deutschland seien die "Produktionsfaktoren" Wissen und Können von überragender Bedeutung. Auch bei immer kürzerer "Halbwertzeit" von Wissen bleibe ein unveränderlicher Grundbestand.

Kraus wandte sich gegen die grassierende educational correctness als Variante des ohnehin omnipräsenten "politisch korrekten" Denkens. Unterricht müsse wieder ergebnisorientierter gestaltet werden. Statt der Verabsolutierung von "Selbstbestimmung" der Schüler sei stärker zur Selbstbeherrschung, Selbstbesinnung und auch zur Selbstlosigkeit zu erziehen. Nachdem alle traditionellen Tabus gebrochen seien, müsse jetzt tabulos vor allem über die Grundschulerziehung diskutiert werden, um die Funktionsfähigkeit der weiterführenden Schulen wieder herzustellen. Hier könne schon gar nicht mehr von Qualitätssicherung gesprochen werden, da Qualität überhaupt erst wieder geschaffen werden müsse.

Leistung in der Schule mit pejorativen Ausdrücken wie "Leistungsterror" oder "Streß" zu belegen sowie schriftliche Prüfungen, Versetzungshürden und Noten abzuschaffen, sei mit Sicherheit der falsche Weg. Statt dessen müsse Schule Herausforderungen stellen. Gerade das Meistern von Herausforderungen schaffe Freude, weil es kein Geschenk sei wie ein zufälliges und flüchtiges Los. Alles andere sei letztlich nur Zeitvertreib. Und dafür sei die Zeit zu kostbar. Der Orientierungslosigkeit Jugendlicher könne durch Identitätsstiftung, die durch Teilhabe an der Gesellschaft, gemeinsamem Wissen und gemeinsamer Tradition zu erreichen sei, begegnet werden. Sozialpädagogische Aufgaben, die die Eltern nicht mehr bewältigen können, dürften aber nicht zu Lasten des Fachlichen auf die Schulen abgewälzt werden.

Abschließend warnte Kraus vor einer Schule der fast-education. Tendenzen dazu gäbe es bei allen Parteien. Die schulische und universitäre Ausbildung sollte nicht ausschließlich nach ökonomischen Gesichtspunkten ausgestaltet werden. Es gäbe auch einen Eigenwert des gerade nicht ökonomisch Verwendbaren. Mittlerweile sei die kuriose Situation eingetreten, daß so mancher Konservative den früher von den Linken vertretenen Anspruch verteidige, daß Bildung keinesfalls den brutalen Verwertungsinteressen des Kapitals ausgeliefert werden dürfe.


 
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