© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/00 24. November 2000

 
Jenseits von Leid- und Lightkultur
von Baal Müller

"Kultur" ist zur Zeit be kanntlich ein Modewort. Immer neue Kulturen werden von Kulturdiskurs und Diskurskultur, Kulturschaffenden, Kulturfunktionären und Kulturindustrie kultiviert. Unter den dabei entstehenden Begriffsmonstern sind "Erinnerungskultur", "Gedenkkultur", "Spaßkultur" verglichen mit "Hinseh- oder Wegsehkultur", der unsäglichen "Schamkultur" oder dem nach Borstenschnitt und Händen an der Hosennaht klingenden "Kulturstandort" noch die harmloseren Varianten, und selbst eine "Kulturkultur", offenbar eine solche, die das Nachdenken über sich selbst in den Mittelpunkt stellt, wurde schon gesichtet.

Daß die beständige Reflexion über den Kulturbegriff und seine inflationäre Verwendung nicht gerade Ausdruck von kulturellem Reichtum sind, sondern einer tiefen Unsicherheit entsprechen, ist evident. Die unglaubliche Armut unserer Kultur des kulturellen Selbstmords zeigt besonders deutlich die aktuelle Debatte um das neueste Thema unseres Kulturdiskurses, die sogenannte, eventuell deutsche, "Leitkultur", unter der vorwiegend Verfassungstreue und Sprachkompetenz, gelegentlich aber auch Schweinebraten, Pünktlichkeit und das Auswendiglernen von Balladen verstanden werden. Das Ärmliche besteht nicht nur darin, daß diejenigen, die den Kulturbegriff besonders gern im Munde führen, mit den üblichen Argumenten vor dem Verfechten und sogar vor dem Thematisieren einer deutschen Leitkultur warnen – an solche Warnungen hat man sich gewöhnt –, sondern es zeigt sich auch an dem, was die Befürworter der deutschen Leitkultur ihnen entgegensetzen.

In doppelter Hinsicht nötigt es dem Betrachter ein Grinsen ab, wenn CSU-Politiker im Fernsehen ausgerechnet die Stellung der Frau in "unserer Kultur" gegen den Multikulturalismus von Rot-Grün ins Feld führen: Zum einen ist der Eifer ergötzlich, mit dem man sich plötzlich der Emanzipationsrhetorik der Linken bedient, zum anderen belustigen die Ausflüchte, mit denen sich die Linken über die offensichtlichen Widersprüche von emanzipatorisch gemeintem Multikulturalismus und damit in Kauf genommenem anti-emanzipatorischem "Chauvinismus" hinwegzutrösten suchen. Der humanitäre Universalismus steht dabei vor der Frage, ob er auch seine eigene Negation akzeptieren will.

Indessen ist die Lage des Konservativen auch nicht viel günstiger, denn er beruft sich, wie Angelika Willig in ihrem Forum-Aufsatz (JF 45/00) betont hat, zumeist ja gerade nicht auf eine spezifisch deutsche Leitkultur, die er zu schützen vorgibt, sondern auf die übernationalen westlichen Werte von Gleichberechtigung, Demokratie und Toleranz. Paradoxerweise sucht er nun das aufklärerische Modell der Linken gegen dessen Perversion zu schützen, die sich ergibt, wenn der allzu Tolerante auch intolerante Fundamentalismen meint tolerieren zu müssen – vorausgesetzt sie kommen nicht "von rechts". In diesem Fall, also bei allem, was rechts der SPD (mit Ausnahme der einflußreichen Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft in der CDU) liegt, hat die Toleranz sehr schnell Grenzen, denn schließlich werden von dort die linken Integrationsprojekte gelegentlich behindert, und dann erscheint es doch nötig, intolerant gegen die Intoleranten zu sein.

Ungeachtet solcher rhetorischen Streitigkeiten hat man sich auf der inhaltlichen Ebene längst geeinigt: Für beide Seiten ist das westliche humanitäre Modell verbindlich – so wie es sich in der Praxis durchgesetzt hat und von seinen Repräsentanten heute verstanden wird: als Geldverdienen und Geldausgeben, Produzieren und Konsumieren im Rahmen der allgemein verbindlichen Menschenrechte. Man hat sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt. International sucht man ihn durch den Nachweis durchzusetzen, daß die kulturellen Unterschiede doch nicht so groß seien (und falls doch, hilft man ihnen militärisch oder wirtschaftlich etwas ab), und national hat man die überlieferte Kultur längst durch die Leidkultur der totalen Erinnerung sowie die Lightkultur des totalen Spaßes ersetzt.

Anstatt deshalb nur seinen larmoyanten Kulturpessimismus zu pflegen, sollte sich der heute immer noch Kulturbeflissene, der sich nicht mit den an ihrer Statt feilgebotenen Surrogaten bescheiden möchte, allerdings ernstlich fragen, ob der Übergang von der regional verorteten Kultur zur Weltzivilisation ein vielleicht notwendiger Prozeß sein könnte, dem man sich als solchem zu stellen habe.

Von der Kultur ist erst seit dem 17. Jahrhundert die Rede. Vorher wurde cultura im humanistischen Sprachgebrauch immer mit einem Genitiv versehen; so sprach man etwa von der cultura animi und meinte damit die Pflege der geistigen Fähigkeiten, wobei noch ein Rest der ursprünglichen Bedeutung von Landbestellung und Götterverehrung mitschwang. Die erstmalige Thematisierung von "Kultur" als solcher, ohne Genitiv, durch den Juristen Samuel Pufendorf konnotiert bereits die für den späteren Kulturbegriff charakteristische soziale und ergologische – auf ein ergon, ein menschliches Werk – bezogene Bedeutung: Kultur hat nur eine Gemeinschaft von Menschen, und sie wird von ihnen gleichsam gemacht. Somit tritt "Kultur" in Gegensatz zur "Natur" als dem von selbst Aufgehenden und Entstehenden sowie zur "Barbarei" als dem Rückfall in ein quasi-natürliches Verhalten des Menschen.

Herder verleiht dem Kulturbegriff eine historische Komponente, indem er verschiedene Stufen der kulturellen Entwicklung unterscheidet. Durch das von ihm und seinen romantischen Nachfolgern entwickelte organologische Modell der Kultur bleibt diese, sowohl in einem strukturell-analogischen als auch in einem genetischen Sinne, auf das natürliche Paradigma bezogen und kann dadurch, allerdings nur im deutschen Sprachraum, von der Zivilisation abgegrenzt werden.

Erstmals taucht diese Unterscheidung bei Kant auf und hat dort bereits, im moralischen Sinn, ihre normative Funktion; sie ist der Sache nach in der spätromantischen und lebensphilosophischen Traditionslinie des deutschen Geistes präsent und wird gegen Ende des 19. Jahrhunderts, jetzt aber in ästhetischen Kategorien, zunehmend präzisiert.

Vor allem für Nietzsche ist Kultur durch einen einheitlichen Stil gekennzeichnet, den er, wie später Klages mit größerem systematischen Anspruch, als Lebensäußerung und Ausdruck einer bestimmten Lebensform versteht. Spengler vereinigt die historische Betrachtung der Kultur mit der ästhetischen und präzisiert den Gegensatz von Kultur und Zivilisation in einem genetischen Sinne (während Nietzsche und besonders Klages eine ontologische Erklärung bevorzugen): Kultur ist für ihn die Erscheinungsganzheit eines raumzeitlich, in seinem Äon und seinem Großraum, beheimateten Menschentums im Zustand seiner Jugend und seiner Blütezeit, während Zivilisation das unausweichliche Greisenalter einer jeden Kultur darstellt.

Wenn der kulturelle Verfall somit "natürlich" ist, hat es keinen Sinn, ihm etwa durch historisierende Wiederbelebungsversuche entgegentreten zu wollen; man muß sich diesem Prozeß vielmehr stellen und ihn im Sinne eines "heroischen Realismus" bejahen.

Wenngleich der allzu starre Schematismus von Spenglers Kulturkreislehre ebenso problematisch ist wie seine Neigung, das Kind mit dem Bade auszuschütten bzw. vorschnell die schlechteste Alternative zu wählen, obwohl es vielleicht noch eine zweitschlechteste – die sogenannte "beste" – gibt, so ist seine genetische Herleitung der Zivilisation aus der Kultur bedenkenswert. Wenn man diese These ernst nimmt, verbietet sie die beliebte Billigkeit, mit der die vorgeblich heile Welt der Vergangenheit der krisenhaften Moderne und ihrem sozialen Atomismus und Heimatverlust, ihrer Bindungslosigkeit und Naturzerstörung entgegengehalten wird. Sie findet sich in einer weniger starren Form auch bei Arnold Gehlen, der in "Moral und Hypermoral" das Aufkommen humanitärer und universalistischer Moralsysteme in der Antike, etwa in der hellenistischen Stoa, beschreibt und mit einem Nachlassen der älteren, heimatgebundenen Ethiken in Verbindung bringt. Auch hier treten typisch zivilisatorische Vorstellungen bereits in einer Spätzeit auf, parallel zum Untergang der griechischen Stadtstaaten; und ähnlich wie in heutigen Zeiten der anglo-amerikanischen Hegemonie kamen sie den Interessen der damaligen regionalen Großmächte, dem Perser- und dem Alexanderreich, sehr gelegen. Wer den genetischen Zusammenhang zwischen Kultur und Zivilisation nicht akzeptiert und die erstere von der negativ bewerteten zweiten reinhalten, sie womöglich gar wie Julius Evola als opake Tradition gänzlich vom historischen Verfallsgeschehen isolieren möchte, der steht vor der Frage, wie Erfolg und Effizienz der Zivilisation, wie die näheren Modalitäten ihres Sieges über die Kultur zu erklären sind. Verschwörungstheorien, die globale Prozesse aus der Böswilligkeit einzelner oder bestimmter Gruppen (für Liebhaber einfacher Erklärungen zum Beispiel aus der Bosheit jüdisch-freimaurerisch-sozialistischer Zirkel) herleiten wollen, greifen hier ebenso zu kurz wie esoterische Spekulationen über einen kosmischen Sündenfall. Ähnlich wie für Ernst Bloch die Unruhe der Hintern des Teufels und die Langeweile der Hintern Gottes ist, so kann (nicht nur die moderne) Zivilisation als der Hintern der Kultur angesehen werden.

Jede Kultur tendiert, wenn sie eine gewisse Bedeutung und Ausbreitung erlangt hat, zum zivilisatorischen Universalismus. "Du aber, Römer, gedenke die Völker der Welt zu beherrschen (darin liegt deine Kunst), und schaffe Gesittung und Frieden, schone die Unterworfenen und ringe die Trotzigen nieder", heißt es beim römischen Staatsdichter Vergil (in der Übersetzung Thassilo v. Scheffers), die neue Weltordnung des Kaisers Augustus poetisch rechtfertigend. Nicht nur Kulturen, die wesentlich politisch geprägt sind und einen entsprechenden Anspruch vertreten, auch und vor allem die von den Weltreligionen geschaffenen geistigen Formationen, selbst noch die großen Stilrichtungen der Neuzeit, Renaissance und Barock, Klassizismus und Romantik, waren gesamteuropäisch und tendenziell global ausgerichtet.

Nicht allein Deutschland als Kernland des übernationalen Heiligen Römischen Reiches, sondern auch andere Staaten haben Staatsideologien entwickelt, die unter religiösem oder zivilisatorischem Vorzeichen ihre Grenzen geistig und dann auch in einem sehr physischen Sinne überschreiten. Die industrielle Revolution, wenig später die Massenmedien und -kommunikation, beschleunigen diesen Prozeß; aus Jahrhunderte übergreifenden und die gesamte geistige Signatur ihres Zeitalters prägenden Haltungen werden Moden und Stilrichtungen, die im 19. Jahrhundert immerhin noch einige Jahrzehnte vorherrschen, im zwanzigsten dann alle paar Jahre wechseln und oft auch gleichzeitig existieren, was zu der voreiligen Annahme eines nun eintretenden posthistorischen Zeitalters führte.

Es schwindet allerdings nicht nur die zeitliche Dauer der Kulturen, sondern auch ihre räumliche Ausdehnung; europäische Epochen weichen nationalen Tendenzen, und diese wiederum werden von solchen des Milieus oder des von intellektuellen Moden geprägten Zirkels abgelöst. Ebenso läßt auch die Fähigkeit einer kulturellen Formation nach, viele oder alle Bereiche der Gesellschaft zu durchdringen. Im Zeitalter des Barock gab es barocke Architektur, barocke Kunst, barocke Musik und barocke Wissenschaft, ja sogar spezifisch barocke Ausformungen der Politik und Religion; die Romantik besaß diese allumfassende Tendenz zwar immer noch, konnte sie aber nur noch im fiktionalen Raum des Kunstwerkes aufrechterhalten und mußte sehr schnell auf einzelne Projekte wie das einer romantischen Naturwissenschaft verzichten. Neueren Richtungen gelang es schließlich überhaupt nicht mehr oder nicht ernsthaft, die Grenzen ihres jeweiligen Subsystems zu sprengen.

Die immer weiter zunehmende Kommunikation führte dabei zu einer wachsenden Präsenz auch des Fremdesten und Entferntesten, das immer neue Mischungen mit dem Vertrauten und Hergebrachten einging, die aber kaum etwas neues Dauerhaftes darstellten, sondern durch wieder andere Montagen, Collagen, Zitationen und Amalgamierungen verdrängt wurden. Bestand und weltweite Herrschaft errang dabei nur die all diesen Tendenzen zugrundeliegende ökonomisch-militärische Ordnung, die am effektivsten und erfolgreichsten von der angelsächsischen Kultur geprägt wurde, welche sich dadurch zur heutigen Weltzivilisation aufschwang.

Die Tatsache, daß diese Vernichtung der Kultur durch Zivilisation ein Ergebnis der kulturellen Entwicklung selbst ist, verbietet einen lediglich nostalgischen Rückblick auf vergangene Kultur sowie den stets zum Scheitern verurteilten Versuch eine Restauration. Für den Konservativen, der eine bestimmte Leitkultur fördern möchte, ergibt sich daraus zweierlei: Zum einen muß er prüfen, welche Aspekte der intendierten Leitkultur überhaupt der Kultur zugehören und welche eher zivilisatorisch bedingt sind, und zum anderen sollte er einsehen, daß jeder höheren Kultur ab einer bestimmten Ausbildung und Differenzierung die Tendenz zur Zivilisation innewohnt. Eine Leitkultur könnte in diesem Sinne als eine Kultur im Übergang zur Zivilisation verstanden werden.

Der Gegensatz zwischen Kultur und Zivilisation ist also nur ein relativer; beide haben ihre historische Notwendigkeit und damit ihren Wert. Ein kluger Konservatismus fördert also nicht Überliefertes und Regionales um ihrer selbst willlen, sondern weil sie gegenwärtig von der Übermacht des Neuen und Globalen in ihrer Existenz bedroht werden. Ebenso sind Zeiten und Konstellationen denkbar, in denen die andere Partei ergriffen werden müßte, die der Veränderung und Erweiterung.

Konservativ ist somit nicht der Nostalgiker, der am regional Beschränkten festhält, obwohl dieses aus sich selbst heraus seine Grenzen transzendierte; konservativ ist vielmehr der Realist, der die Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung einsieht, die jeweiligen Werte sowohl des Regionalen als auch des Globalen erkennt und in seiner konkreten historischen Situation das gerade stärker Bedrohte von beiden fördert. Seine Aufgabe ist also weniger ein Voranmarschieren, Umwälzen und Vorwärtspreschen, sondern ein Gegensteuern, Umlenken und Bremsen, weshalb er sich oft den jeweils stärksten Neigungen seiner Zeit verschließt und demgemäß ein Außenseiter und undogmatisch Abseitiger ist.

Wenn alle sich bei staatlich verordneten Demonstrationen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit einreihen, steht er ebenso notorisch abseits, wie wenn dieselben zu anderen Zeiten für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit auf die Straßen gehen. Er schützt die Person vor dem Kollektivismus, verteidigt aber auch die Gemeinschaft vor dem Individualismus. Er arbeitet an der Pflege seiner Kultur wie auch von Kultur überhaupt, weil er weiß, daß Kulturen nicht von selber wachsen; er versucht aber auch nicht, eine Kultur, die dann bestenfalls eine Ideologie würde, aus dem Nichts zu begründen. Er gießt sein Beet heutzutage sehr reichlich, weil seine kulturellen Pflänzchen verkümmert sind, und hofft, daß dann vielleicht neue Leitkulturen blühen, er ist aber auch bereit, sie zu stutzen, wenn sie den ganzen Garten überwuchern.

Unsere Pflanzen wuchern heute freilich nicht, deshalb sollten wir sie gießen, und zwar, wie gesagt, reichlich.

 

Baal Müller, 30, hat Philosophie und Germanistik studiert und arbeitet zur Zeit an seiner Promotion über Ludwig Klages und den George-Kreis.


 
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