© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/00 01. Dezember 2000

 
Kein Wunder an der Weichsel
Europäische Union: Statt wirtschaftlicher Fakten dominieren politische Wunschvorstellungen die EU-Erweiterungsverhandlungen
Jörg Fischer/Arnulf Ralf

Die Vorstellung der diesjährigen Fortschrittsberichte der Europäischen Kommission zu den Kandidatenländern löste bei den Bewerbern und vielen Pressekommentaren – wie der FAZ vom 8. November – mildes Erstaunen aus wegen der sehr guten Beurteilung Polens, das somit im Urteil der Kommission in die Spitzengruppe aufrückte.

Des Rätsels Lösung: Die Schlußfolgerungen des Polenberichts wurde vom Kabinett des EU-Kommisars Günter Verheugen geschönt und jene der erfolgreichsten Kandidaten (Ungarn, Estland) so angepaßt (d.h. zurückgestuft), daß sie auf einer Stufe mit Polen stehen.

Das ergibt sowohl der Vergleich zwischen den umfangreichen Analyseteilen (die von den verschiedenen Kommissionsdiensten sachkundig und möglichst objektiv geschrieben wurden) und den politisch gewünschten Schlußfolgerungen des Kabinetts, die dann als Quintessenz in das Strategiepapier ("Wegeskizzen") der Kommission übernommen wurden, als auch der direkte Vergleich der analytischen Einschätzungen der Wirtschafts- und EU-Rechtsentwicklung in den Polen- und Ungarnberichten.

Schon bei seinem Polenbesuch vom 23. Oktober – bevor die Fortschrittsberichte fertiggestellt und von der Kommission am 8. November gebilligt worden waren – verkündete Erweiterungskommissar Verheugen in Warschau offensichtlich, der Fortschrittsbericht werde Polens erhebliche Fortschritte in aller Deutlichkeit zeigen, so daß die Diskussion über eine erste Erweiterungsrunde ohne Polen ein Ende haben werde. (FAZ vom 24. Oktober)

Die diesjährige Manipulation ist nicht neu. In einem am 2. Dezember 1999 veröffentlichten Pressegespräch der Welt mit Günter Verheugen wurde den Journalisten erzählt, die von den Kommissionsdienststellen geschriebenen Schlußfolgerungen der 1988er Berichte seien in den "Reißwolf gewandert" und von Verheugen im Lichte seiner höheren strategischen Einsichten politisiert worden. So empfahl die Kommission damals zur allgemeinen Überraschung u. a. die alsbaldige Verhandlungsaufnahme mit Bulgarien und Rumänien, die in den analytischen Berichten als höchstens langfristig beitrittsfähig eingeschätzt worden waren, und den Kandidatenstatus für die Türkei, die sich durch nichts für eine Mitgliedschaft qualifiziert hatte.

In dem wirtschaftsanalytischen Teil der Fortschrittsberichte wird Ungarn angesichts des erfolgreich abgeschlossenen Privatisierungsprozesses, des effektiven Schutzes wirtschaftlicher Rechte und eines starken und gut geregelten Finanzsektors eine "funktionsfähige Marktwirtschaft mit der nötigen makroökonomischen Stabilität und institutionellen Infrastruktur" bescheinigt, die "in naher Zukunft dem Wettbewerbsdruck in der EU gewachsen" sei. In Polen sind laut Kommissionsanalyse die Arbeitslosigkeit mit 15 Prozent und das Zahlungsbilanzdefizit mit minus 7,5 Prozent des BIP doppelt so groß wie in Ungarn. Die Auslandsinvestitionen betragen mit 490 US-Dollar pro Kopf noch weniger als ein Drittel des ungarischen Vergleichswertes. Auch sind die Privatisierung und die Restrukturierung von Kohle, Stahl, Rüstungsindustrie und Landwirtschaft längst noch nicht abgeschlossen. Deshalb qualifiziert der Analyseteil ähnlich wie im Fall Tschechiens und Sloweniens seine Prognose, Polen werde in naher Zukunft dem Wettbewerbsdruck in der EU standhalten, mit dem bedeutsamen Zusatz: "sofern es seine jetzige Reformbemühungen fortsetzt und zu Ende führt". In den politisch redigierten Schlußfolgerungen fehlt jene entscheidende einschränkende Qualifikation. Im Sprachcode der EU wurde Polen damit zur eigenen Überraschung in die wettbewerbsstärkste Spitzengruppe von Ungarn und Estland befördert. Der Textvergleich macht die Manipulation offenkundig. Offenbar gingen die "Korrektoren" davon aus, daß nur ihre Schlußfolgerungen, nicht aber der analytische Volltext gelesen würden.

Die Mängelliste zur ungenügenden polnischen Umsetzung des EU-Rechts ("Acquis") ist lang im analytischen Text der Dienststellen: Systematische Marktzugangshemmnisse, kaum Fortschritte im Abbau der Hemmnisse im Kapitalverkehr und der Entprivilegierung der Sonderwirtschaftszonen, Defizite der Binnenmarktverwaltung, von Zoll- Steuer- und Wettbewerbsbehörden, mäßige Umsetzung der Binnenmarktnormen, Defizite im Wettbewerbsrecht und bei der Geldwäsche, wenig Fortschritte in der Landwirtschaft, auch in der Tier- und Pflanzengesundheit, kein Fortschritt in der Fischerei und der Sicherheit im Schiffsverkehr, wenig in der sonstigen Verkehrssicherheit, kaum Fortschritte im Umweltschutz (Umsetzungsprogramme und Überwachung fehlen), im Arbeitsrecht, dem Sozialen Dialog, den Energienormen und den Postdiensten, zögerliche Strukturanpassungen in den Kohle-, Stahl- und Rüstungsindustrien. Die Grenzüberwachung bleibt problematisch. Korruption in Justiz und Verwaltung sind "weit verbreitet". Es gibt kein funktionierendes Beamtengesetz. Die Organisierte Kriminalität steigt (Jugendkriminalität, Waffengebrauch, Wirtschaftsverbrechen). Die Gerichte (vor allem in Warschau) sind überlastet. Kritisiert werden die Zustände in den Haftanstalten und der berichtete Amtsmißbrauch der Polizei.

In den redigierten Schlußfolgerungen gibt es keinerlei politische Vorbehalte. Sie würdigen die laufende Justizreform und die Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung und zur Umstrukturierung der Schwerindustrie. Sie loben die "raschere Übernahme des Acquis 1999" vor allem bei Normen, Staatshilfen, dem geistigen Eigentum und im Verbraucherschutz. In der Tonalität sind die Schlußfolgerungen zu Polen mit jenen zu Ungarn identisch, ein Land mit einer wesentlich kürzeren Mängelliste in der EU-Rechtsumsetzung. Die gravierenden Probleme Polens in den Verwaltungskapazitäten, der Korruption, den Strukturanpassungen und der EU-Rechtsumsetzung werden eher beiläufig erwähnt und damit verniedlicht.

In Ungarn moniert der analytische Hauptteil des Fortschrittsberichts polizeiliche Übergriffe und die Diskriminierung der Zigeuner (und würdigt dabei die Umsetzung einschlägiger Programme), die Überbelegung von Haftanstalten, die Überlastung des Obersten Gerichtshofes, die Korruption (die mit geeigneten Maßnahmen bekämpft werde) und die geringe EU-Rechtsumsetzung im Umweltschutz und in der Lebensmittelhygiene. Er verlangt vermehrte Anstrengungen bei der Stahlrestrukturierung und zur Wahrung der Unabhängigkeit der Zentralbank. Er stellt jedoch fest, daß die neuerlichen Fortschritte Ungarns das EU-Recht in vielen Kernbereichen (Binnenmarkt, Staatshilfen, Zollwesen, Energie, Soziales, Justiz und Innere Sicherheit) und die notwendigen Verwaltungskapazitäten bereits gut verwirklicht haben.

Dennoch ähneln die politischen Schlußfolgerungen durch die Betonung verschiedener, meist zweitrangiger Restprobleme, etwa in der Agrarverwaltung, bei Steuerbefreiungen oder der Rechtsangleichung im Straßengüterverkehr den geschönten Schlußfolgerungen des Polenberichts. Der Eindruck entsteht, als sei Ungarn (ebenso wie Estland und Slowenien) bewußt härter zusammenfassend beurteilt werden, um den Abstand zu den Polenschlußfolgerungen zu verwischen.

Dieses Verfahren wirft einige Fragen auf:

– Warum stimmt die Kommission einmal mehr so offenkundig manipulierten Berichten zu?

– Warum riskiert sie ihre Glaubwürdigkeit in der Erweiterung als einer Schicksalsfrage für die Zukunft der EU?

– Warum akzeptiert sie eine Taktik, welche die ernsthaften Reformer in Polen entmutigt und die zahlreichen Reformgegner wegen des offensichtlichen "politischen Deals" dagegen bestärkt (und damit eine erfolgreiche polnische EU-Mitgliedschaft eher gefährdet)?

– Warum bestraft und demotiviert sie die erfolgreichsten Bewerberländer wie Zypern, Ungarn, Estland und Slowenien, indem sie diskussionslos das frühstmögliche Beitrittsszenario auf 2004 verschiebt und ihren Beitritt mit dem (zumindest mittelfristigen) Problemfall Polen verbindet?


 
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