© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/00 01. Dezember 2000

 
Der Hunger der Wölfe
In den USA entscheiden Juristen nicht nur über den neuen Präsidenten
Andreas Wild

Wer behauptet, das Gezerre um das Ergebnis der amerikanischen Präsidentschaftswahlen schade dem Ansehen der Demokratie nicht und nur einige sinistre afrikanische Hinterwald-Diktatoren würden aus durchsichtigen Gründen daran Anstoß nehmen, lügt sich in die eigene Tasche. Das Verwundern ist überall groß, nicht nur in Afrika, der Ansehensverlust der USA schon jetzt riesig.

Daß ein so modernes Land es nicht schafft, ein Routine-Wahlergebnis am nächsten Tag ordentlich auszuweisen, daß ein wochen- und monatelanger Streit um das Ergebnis anhebt, wieder und wieder gezählt wird und dabei immer neue Ergebnisse herauskommen, löst Kopfschütteln aus und weckt bösen Verdacht. Sind die Amerikaner etwa schlicht zu dämlich, Wahlen durchzuführen? Das kann doch nicht wahr sein. Also bleibt nur der Schluß, daß hier von allen möglichen Seiten am Wahlverfahren herummanipuliert wurde, mit einem Wort: daß gefälscht wurde.

Daß die Sache schließlich bei den Gerichten landete, die nun darüber entscheiden, ob und wie oft nachgezählt werden darf, schlägt dem Faß gewissermaßen die Krone ins Gesicht. Wieso genügte nicht der Spruch der Wahlleiter in den Wahllokalen? Diese Leute werden doch direkt auf ihre Exaktheit und Unparteiischkeit hin ausgewählt, jedenfalls in Ländern mit staatspolitischer Tradition. Waren es in Florida alles Trottel oder gar Halunken? Oder haben die Anwälte und die Richter nur auf einen solchen Fall gewartet, um sich einmal direkt in den Wahlprozeß einmischen zu können und so endlich auch diese wichtige demokratische Institution zu übernehmen, sie zu "justifizieren"?

Die Justifizierung, die Verwandlung sämtlicher Sphären des öffentlichen und auch des privaten Lebens in einen permanent tagenden Gerichtshof, wo faktisch alle Entscheidungen nur noch justizförmig und unter Mitwirkung bzw. unter Beaufsichtigung von außenstehenden Anwälten und Richtern gefällt werden, ist drüben ja schon seit langem im Gange. Eine schier astronomische Anzahl von Anwälten ist mittlerweile unterwegs, die wie hungrige Wölfe die tagtägliche Lebenswelt durchschweifen, auf der Suche nach Klienten, nach "Fällen", nach Opfern, die mit Hilfe irgendwelcher Gesetzestexte ausgenommen werden können.

Das traditionelle angel-sächsische Recht mit seiner empiristischen Analogiesucht kam solchem Treiben von Anfang an entgegen. In unserem kontinentalen, aus dem römischen Jus abgeleiteten Recht wird möglichst deduktiv verfahren, es gibt genaueste Definitionen etwa von Einbruch im Unterschied zu Diebstahl oder von Totschlag im Unterschied zu fahrlässiger Tötung; unter diesen genauen Definitionen wird ein vorliegender Fall jeweils betrachtet. Im angelsächsischen Recht ist das anders.

Dort regiert der "Präzedenzfall". Man beruft sich auf analoge Fälle in der Vergangenheit und urteilt überwiegend anhand solcher Analogien. Es entsteht eine fast ins Irre ausgedehnte Kasuistik. Dem Belieben ist letztlich Tür und Tor geöffnet, wenn zum Beispiel Analogien aus fernen Tagen, die längst faul geworden sind, vom Gericht vorgeschoben werden, um ein Exempel zu statuieren oder auf eine zufällige gesellschaftliche Konstellation beifallheischend zu reagieren.

Man erkannte schon früh: Die Analogien ließen sich nicht nur als Gerechtigkeitshilfen einsetzen, sondern auch zur Erringung von gesellschaftlichem Prestige, zur Niederringung unbequemer Konkurrenten, zur Steigerung von Honoraren und zum Einkassieren hoher und höchster Entschädigungssummen. Heute dient dieser ganze phantastisch aufgeblähte Justizbetrieb längst nicht mehr der Herstellung von Gerechtigkeit, sondern ist in erster und auch noch in zweiter Linie eine hochdifferenzierte, hocheffiziente Geldvermehrungsmaschine, ein Geschäftszweig unter anderen, eine erfolgreiche Branche.

All die vielen populären Gerichtsserien im Fernsehen verschweigen immer die Summen, die nach Fallen des richterlichen Hammers unterm Strich abgerechnet werden. Es siegt dort, wie im Märchen, regelmäßig der Gute, und der Böse muß zahlen (falls er nicht unter die Giftspritze kommt und sein Vermögen ohnehin eingezogen wird). Üblicherweise geht es aber gar nicht um Gut und Böse, es geht um die Aufteilung der Endsumme und vor allem darum, daß die beteiligten Justizleute einen gehörigen Batzen abbekommen.

Im Falle der jetzt anhängigen justifizierten Stimmenauszählung machen erst einmal die von den Demokraten und Republikanern bei den Gerichten ins Rennen geschickten Anwälte ihren nicht zu knappen Schnitt. Die Endsumme, um die es letztlich geht, ist freilich viel, viel größer, als es einige Anwalthonorare sein können.

Die neue Regierung, um die man sich streitet, kann faktisch beliebig viele Posten und Pöstchen verteilen, Minister, Botschafter, alle möglichen Sonderbeauftragten und Lobbyisten, nicht zu vergessen die unzähligen "Berater", die bei den jeweiligen Teams in den Startlöchern stehen, die den Parteien "nahestehenden" Industrie- und Dienstleistungsleute mit ihren Auftragsbüchern, die hoffnungsvollen ausländischen Optanten für diese oder jene Partei.

Selbstverständlich steht auch nach ordentlich abgelaufenen, nicht justifizierten Wahlen üppiger Geld- oder Pöstchensegen an. Aber der Unterschied ist eben der, daß dort die Verteilung gewissermaßen naturwüchsig abrollt; jeder um das Geschäft weiß, daß der Sieger die Prämie kassiert, unabhängig davon, ob er sie "verdient". Bei den justifizierten, vom Gericht extra abgesegneten US-Präsidentschaftswahlen wird diese Naturwüchsigkeit, dieses Recht des (momentan) Stärkeren, verkleistert. Man tut so, als habe das Ganze etwas mit höherer, ja allerhöchster Gerechtigkeit zu tun, als komme der Segen von ganz oben.

Dabei kommt er doch diesmal nun gerade von ganz unten, aus einer Entscheidung, die sich nicht einmal mehr ihrer quantitativen Stimmigkeit sicher ist. Verkehrte Zeiten, verkehrte Rhetorik.


 
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