© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/00 01. Dezember 2000

 
Dem Augenblick Dauer verleihen
Gedanken über die Faßbarkeit der Zeit
Heinrich Lummer

Wenn es um die wichtigsten Begriffe im Leben geht, dann hat man den Eindruck, sie entziehen sich einer Definition. Liebe, Glück, Freiheit oder auch Zeit bleiben rätselhaft unbestimmt. Und doch wissen wir mit ihnen umzugehen. Philosophen und Physiker, Könige und Heilige haben sich mit dem Phänomen Zeit herumgeschlagen und unterschiedliche Sichtweisen vermittelt.

Am einfachsten war es da noch, die Zeit zu messen, um sich in ihr einzurichten. Da sind wir Perfektionisten geworden. Primitive Kulturen haben nicht einmal ein Wort für Zeit. Aber das In-den Tag-Hineinleben früherer Kulturen haben wir uns abgewöhnt. Wir haben Zeit- und Lebenspläne. Jeder hat seine Uhr, aber meist haben wir keine Zeit. Das ist natürlich Unsinn, denn die Frage ist nur, wofür man Zeit hat. Spätestens Paulus hat uns da ein schlechtes Gewissen angedroht, indem er uns unter Leistungs- und Zeitdruck stellte.

Kaufet die Zeit aus, lautet sein Plädoyer, nutzt sie. Schließlich müßt ihr über jede unnütze Minute Rechenschaft ablegen. Schrecklich dieser Druck. Aber er ist angelegt in der Zeit. Vieles im Leben kann man zurückerhalten. Oft sogar die Gesundheit. Die Zeit kommt nie zurück. Sie fließt unaufhörlich. Niemand kann ein zweites Mal in den gleichen Fluß steigen, meint Heraklit.

Die Zeit ist irreversibel, wir haben nur den Augenblick. Alles andere ist Erinnerung an die Vergangenheit und Erwartung der Zukunft. Dieses Zusammenfügen des Zeitablaufs erfolgt in unserem Kopf, ist Sache von Gedächtnis und Verstand. Nach Kant ist Zeit eine "Form der Anschauung". Es ist gar zu natürlich, wenn sich der Mensch gegen den unaufhaltsamen Fluß der Zeit zur Wehr setzt, wenn er versucht, die Zeit festzuhalten. "Halt die Welt an, stoppt die Zeiger der Uhren", weiß ein Schlager. Und Faust wollte sein Glück erkennen, wenn er zum Augenblicke sage: Verweile doch, du bist so schön. Aber wir können dem Geschehen im Augenblick keine wirkliche Dauer verleihen. Doch gelingt es uns vielleicht, die Zeit zu überlisten. Einerseits können wir dem Augenblick durch Gedächtnis und Erinnerung eine gewisse Dauer verleihen. Nur der Mensch vermag – so Goethe – dem Augenblick Dauer zu verleihen.

Andererseits ist es schon immer das Bestreben der Menschen gewesen, den Fluß der Zeit durch Kreisläufe zu relativieren. Er will die Zeit nicht als rasenden Pfeil oder fließendes Wasser, sondern als Kreislauf sehen. Jahreskreise, Zyklen, Kreisläufe scheinen so etwas wie eine wiederbringliche Zeit zu vermitteln. Der Mensch will sich das Unwiederbringliche gefügig machen. Dazu Schiller: "Unaufhaltsam enteilet die Zeit! – Sie sucht das Beständige. Sei getreu, und du legst ewige Fesseln ihr an." Die Zeit mag die Sehnsucht nach der Unsterblichkeit wecken. Die Deutung des Lebens als eine Art Bewährung in der Zeit ist da nicht weit. So sieht das wohl Paulus, wenn er uns ermahnt, keine Verschwender von Zeit zu sein. Man muß auch die Zeit behalten, um über Zeit und Ewigkeit nachzudenken. Die Zeit heilt viele Wunden, und manchmal sprengt sie sogar Mauern.


 
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