© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/00 01. Dezember 2000

 
Schickt man sich Briefe in Tirol
Oper: Verdis "Luisa Miller" und "Macbeth" auf Berliner Bühnen
Hans-Jörg von Jena

Was Giuseppe Verdi in jungen Jahren schrieb, 16 Opern immerhin, war bis vor wenigen Jahren vergessen. Ungewollt hat der Meister selber zu dieser Nichtachtung beigetragen. Sein vielzitiertes Diktum von den "Galeerenjahren" bedeutet jedoch weniger eine Abwertung der eigenen Leistung als vielmehr die Klage über eine schier unerträgliche Arbeitslast. Verdis Genialität zeigt sich in seinen frühen Opern gleichsam nackt und jugendlich direkt. Neben der melodischen Erfindung ist es Charakterisierungskunst und Expressivität, womit er vor allem die Ensembles und das Orchester bereichert.

In packender Weise war das jetzt bei zwei Berliner Premieren zu erleben, "Macbeth" in der Staatsoper Unter den Linden und "Luisa Miller" in der Deutschen Oper. An der Schwelle eines Verdi-Jahrs (2001 gedenkt man des 100. Todesjahrs des Meisters) griffen beide Häuser mit glücklicher Hand in die Schatzkiste seiner zwischen Dreißig und Vierzig in rascher Folge entstandenen Auftragswerke.

"Macbeth" war für die italienische Oper ein Schritt ins Neuland: in die Ästhetik des Häßlichen. Verdi verlangte beispielsweise eine Lady Macbeth mit "rauher, erstickter, hohler Stimme", der "etwas Teuflisches" zu eigen sei, kein beschönigender Belcanto. Shakespeares "Schön ist häßlich, häßlich schön" aus dem Munde der Hexen manifestierte vertieften Kunsternst.

Michael Gielen am Pult der hochengagiert aufspielenden Staatskapelle wurde diesem düsteren Anspruch durchaus gerecht. Anders die Inszenierung des Regieteams Peter Mussbach/Erich Wonder/Andrea Schmitt-Futterer. Mussbachs Personenführung entindividualisiert nach Kräften (schon die Hexen sind mit Masken versehen), so daß die menschliche Teilnahme an den Vorgängen auf der Bühne sich in Grenzen halten muß. Gleich der Anfang setzt ein symbolisch falsches Signal, wenn das mordbereite Ehepaar Macbeth aus einem Gulli steigt. Es handelt sich doch bei den beiden nicht um Geister des Abgrunds, sondern um fehlbare, von unersättlichem Ehrgeiz verführte Menschen!

Über ihren Gesang allerdings rückten sie dem Publikum nah. Lucio Gallo gewann seinem lyrischen Bariton erstaunliche dramatische Akzente ab und fesselte durch den Ausdruck des Zweifels und der inneren Zerrissenheit, Sylvie Valayre sang die Lady mit Aplomb, spielte sie als kaltherzig zur bösen Tat Entschlossene, bei der die zum Wahnsinn führenden späteren Gewissensbisse überraschen. Aus dem vorzüglichen Ensemble des Hauses ragte der Koreaner Kwangcul Youn (Bancquo) mit balsamischem Baß heraus.

Möglich wäre es und zu wünschen, daß Götz Friedrichs Inszenierung der "Luisa Miller" dieser Schiller-Oper Verdis zu ihrem späten Durchbruch ins Standardrepertoire verhilft. Das bisherige Mauerblümchendasein des Werks liegt, in Deutschland zumindest, vor allem am Libretto von Salvatore Cammarano. Schillers "Kabale und Liebe" ist hierzulande ein gelesener und geliebter Klassiker, Schulstoff, Bühnenschlager und Tendenzstück voll unmittelbar nachvollziehbarer Moral- und Gesellschaftskritik. Da muß es befremden, wenn die Handlung aus einer deutschen Residenz ausgerechnet nach Tirol verlegt ist, und zwar in ein blaß-abstraktes Tirol ohne Andreas Hofer oder Volkstumskämpfe.

Mit dieser Transformierung tat Cammarano zwar im Grunde nichts anderes als heute moderne Regisseure. Warum aber, fragt man sich, wählte er nicht eine italienische Residenz des Dix-huitieme oder der Renaissance? Am meisten hat die Annahme für sich, daß die Tragödie Luises und Ferdinands (der hier Rodolfo heißt) aus historischer Hofatmosphäre in die klare Luft einer höheren Region und damit ins Überzeitlich-Allgemeingültige gehoben werden sollte.

Bühnenbildner Gottfried Pilz jedenfalls, sinnvoll unterstützt von den Schwarzweiß-Kostümen Isabel Ines Glathers, greift diesen Aspekt auf. Er suggeriert Höhenluft – und zugleich Kulissenluft. Ein gemalter Prospekt unwirtlich-majestätischer Alpen beherrscht die Bühne noch dann, wenn Vorhänge ihn bei Innenszenen zeitweilig unsichtbar machen. Als Theatersinnbild des Elementaren taucht er beim tragischen Ende hinter einem zerreißenden Papiervorhang auf.

In dieser alles andere als schwül-südlichen Atmoshäre spielt sich "Kabale und Liebe" als italienisches Drama der Leidenschaften ab. Schillers "höheres Indianerspiel" (Thomas Mann) auf dem Opern-Präsentierteller: auch hier wird dem Bauernmädchen Luisa der verhängnisvolle Lügenbrief abgezwungen (einen die Intrige aufklärenden zweiten Brief an Rodolfo zerreißt sie selber um des gefährdeten Vaters willen). Wenn am Ende beide an der vergifteten Limonade dahinsinken, gelingt es Rodolfo noch, den Schurken Wurm zu erdolchen.

Götz Friedrich überzeichnet lieber operngerecht, als daß er sich ins Prokrustesbett eines vorgegebenen Realismus zwängen ließe. Während der Ouvertüre zeigt er in einer Pantomime die Mordtat, mit der Graf Walter, der Präsident, sich den Karriereweg freischoß. Er führt die Sänger als Schauspieler. Ein Kabinettstück gelingt ihm mit dem schmalen, hochgewachsenen Arun Kotchinian als Wurm: einem Spinnenmann und bösen Gespenst mit abstrusen Verrenkungen und gespreizten Fingern. Und auf daß nicht Alpenfolklore sich unangemessen einschleiche, flitzen Maskenträger karnevalistisch-unheimlich über die Szene.

Ohne das Opernschema der Zeit zu sprengen, nimmt Verdis Partitur Eigenwilliges und Hintergründiges bis hin zum "Falstaff" erstaunlich vorweg. Große Duette und Terzette beeindrucken noch mehr als die keineswegs anspruchslosen Arien. Mit Gusto auch an verborgenen Valeurs musiziert das Orchester unter Frédéric Chaslin (Wien/Jerusalem) Verdis Knappheiten und hitzige Strenge. Nur der glänzende Chor (Einstudierung: Ulrich Paetzholdt) kann nicht ganz vergessen machen, daß er der Handlung ohne echte Funktion aufgepfropft ist.

Ana Maria Martinez ist eine glühend intensive Luisa, bewegungsfreudig und ihrer Spitzentöne sicher. Richard Leech singt den Rodolfo mit kraftvollem, charakterisierend angerauhtem Tenor. Igor Morosow als alter Miller im Rollstuhl, Reinhard Hagen als Präsidenten-Elegant mit grauen Schläfen und der junge Kotchinian: dreimal schlanker Wohllaut, der neben dunkler Stimmgewalt auch weiche Töne verlautbart. Lidia Tirendi als Federica (alias Lady Milford) und die kostbare Yvonne Wiedstruck halten fabelhaft mit.


 
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