© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/00 08. Dezember 2000

 
Kolumne
Umwertung
Klaus Motschmann

Die politischen und verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen um die Grundrechts-Charta der Europäischen Union, die nach dem Willen ihrer Verfasser, einem 63köpfigen "Konvent" unter dem Vorsitz von Altbundespräsident Roman Herzog, einmal das Kernstück einer europäischen Verfassung sein soll, bieten Anlaß, wieder einmal an die Notwendigkeit exakter Definitionen zu erinnern – in diesem Fall an die des Begriffs "Demokratie".

Selbstverständlich enthält auch diese Grundrechts-Charta, wie alle einschlägigen Erklärungen der vergangenen 200 Jahre, ein Bekenntnis zu den "Grundsätzen der Demokratie". Doch zu welcher Demokratie? Zu einer plebiszitären oder repräsentativen? Zu einer sogenannten bürgerlichen oder sozialistischen? Zu einer föderalistisch oder zentralistisch verfaßten? Dies um so deutlicher gefragt, als zwar betont wird, daß sie von dem "kulturellen, humanistischen und religiösem Erbe" Europas ausgeht. Doch wo geht sie hin bzw. wohin soll sie gehen? Die Herkunft gibt nicht unbedingt Auskunft über die Zukunft.

Die Neuordnung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich sowohl in Ost als auch in West ebenfalls nach den "Grundsätzen der Demokratie". Man denke nur wieder einmal an das Potsdamer Abkommen, die Aufrufe und Programme aller Parteien, die Verfassungsentwürfe in den einzelnen Besatzungszonen usw. Was dabei herausgekommen ist, sollte zu denken geben und auch in der jetzigen Auseinandersetzung (sofern man davon überhaupt sprechen kann) bedacht werden. Aber das ist nicht der Fall.

Von einer umfassenden Verfassungsdiskussion kann keine Rede sein. Derartige Praktiken bei der Neuordnung Europas wecken Erinnerungen an den sogenannten demokratischen Zentralismus der Volksdemokratien Mittel- und Osteuropas oder an das monarchische Prinzip des 19. Jahrhunderts und damit an die Probleme einer überzeugenden demokratischen Legitimation.

Dies um so mehr, als in dieser Grundwerte-Charta jeder Gottesbezug, wie zum Beispiel in der Präambel des Grundgesetzes, fehlt, was auf die Bereitschaft zu einem radikalen Traditionsbruch schließen läßt. Auch die "Gebildeten unter den Verächtern des christlichen Glaubens" bestreiten nicht, daß ein derartiger Abbruch der christlich geprägten Tradition den Abschied vom christlichen Abendland bedeutet und die Umwandlung Europas in ein "Gemenge von Völkern und Staaten – aus dem jedes Bewußtsein eines gemeinsamen Auftrages und einer höheren Verantwortlichkeit gewichen wäre" (August Winnig).

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin


 
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