© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/00 08. Dezember 2000

 
CD: Rock
In Würde gealtert
Holger Stürenburg

John Hiatt hat nie in der ersten oder auch nur zweiten Liga des bluesbetonten Folkrock gespielt. Obgleich Ende der achtziger Jahre Songs wie "Slow Turning", "Paper thin" oder "Memphis in the Meantime" kurz davor standen, den Sprung in die Charts zu schaffen, wurde er von den Massen mit Mißachtung gestraft. Nach vielen Jahren Abstinenz kehrt Hiatt nun auf die Bildfläche zurück, eine Rückkehr, die – so ist zu befürchten – wiederum jenseits aller Hitparaden stattfinden dürfte. Denn die Songs von "Crossing Muddy Waters" (Sanctuary/EDEL) sind alles andere als eine Reminiszenz an den musikalischen Zeitgeist.

Hiatt hat innerhalb von nur drei Tagen ein intimes, zerbrechliches Folkalbum aufgenommen, das rockige Untertöne weitgehend vermeidet und der E-Gitarre selten Platz zum Austoben gibt. Die elf Songs sind akustisch und sehr balladesk gehalten, der Blues kriecht des öfteren aus den Ritzen, Countryklänge beherrschen die meisten Lieder. "Lincoln Town" bewegt sich bei John Cougar-Mellenkamp unplugged, "Only the Strong survive" erinnert an Jackson Brownes akustische Ausflüge. "Mr. Stanley" klingt eher augenzwinkernd, "Gone" sehr düster.

Für Freunde klassischen "Songwritings", romantischer Texte und ebensolcher Instrumentierung sowie US-typischer Arrangements ist "Crossing Muddy Waters" ein Meisterstück; Rockfreunde finden nur in wenigen Passagen ihre Freude – und der hitparadenbestimmende Teenager hat in seinem Leben ohnehin noch nie etwas von John Hiatt und seinen grazilen Balladen gehört – was sich leider aufgrund der Radiountauglichkeit der neuen Songs auch nicht ändern dürfte. Ein bißchen mehr Rockorientierung hätte "Crossing Muddy Waters" durchaus gut zu Gesicht gestanden.

Gestandene Rocker hingegen sind die US-Mainstream-Legenden Styx und REO Speedwagon. Während erstere in den vergangenen Jahren – mit der Ausnahme von Gitarrist Dennis de Young – in Originalbesetzung ein großes Comeback feiern konnten, hat man auf dem europäischen Kontinent von REO Speedwagon lange Zeit nichts gehört. Im Juni dieses Jahres sind beide Bands im Rahmen eines Rockfestivals in Riverport/New York aufgetreten und haben ihre größten Erfolge gespielt. Das Ergebnis dieses mehrstündigen Spitzentreffen des US-Rock liegt nun, ebenfalls bei Sanctuary/EDEL, als Doppel-Live-CD vor.

"Arch Allies – Live at the Riverport" zeigt zwei spielfreudige Altrockbands, die in den über 20 Jahren ihres Bestehens nicht verlernt haben, die Liebhaber hymnischer Rockmusik zu begeistern. Tommy Shaw und die Seinen von Styx zelebrieren fundamental ihre "Brave New World" (so auch der Titel ihres aktuellen, bei CMM/SPV erschienenen Studioalbums), hymnisieren den braven amerikanischen "Blue Collar Man", rocken sich im Stile der späten Siebziger durch das "Heavy Water" und intonieren zum Schluß der ersten CD, gemeinsam mit ihren Kollegen von REO, deren Konzertknaller "Roll with the Changes".

REO selbst präsentieren auf der zweiten CD ein buntes Best-of-Programm mit genau jenen sanften Rockballaden, die auch die achtziger Jahre untermalt haben: Der 82er-Hit "Don’t let him go" macht den Anfang, "Can’t fight this feeling anymore" führt zurück ins Frühjahr 1985, die "157 Riverside Avenue" auf das "Rock am Ring"-Festival im Sommer des gleichen Jahres, als REO Speedwagon noch wirklich angesagt waren, und ihr größter Hit "Keep on Loving you" (Mai 1981) beweist noch heute, daß US-Rockmusik in den Achtzigern eingängiger und melodiöser war als alles zwischen Grunge, Seattle und Alternative. Das Comeback, das Styx geschafft haben, wird REO nicht gelingen, zumal neue Songs auf ihrem Livealbum vollständig fehlen. Dennoch ist diese CD eine atmosphärische Hörfreude für den gediegenen und in Würde gealterten Rockfan.


 
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