© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/00 08. Dezember 2000

 
Vom Straßenarbeiter zum Volkstribun
Kanada: Stockwell Day nach Parlamentswahlen neuer Oppositionsführer / Kanadische Allianz tritt Erbe der Konservativen an
Ronald Gläser

Bei der Parlamentswahl in Kanada kamen traditionelle Stimmzettel zur Anwendung, die anschließend per Hand ausgezählt wurden. Die Kandidaten waren alphabetisch aufgeführt und mußten durch ein Kreuz neben ihrem Namen ausgewählt werden. "Es ist einfacher als in den Vereinigten Staaten", sagte Premierminister Jean Chrétien bei seiner Stimmabgabe in Québec.

Dabei war auch der Ausgang der Parlamentswahl in Kanada bis zum Wahlmontag nicht absehbar. Die Ursache dafür ist nicht, daß in Neufundland immer noch die Stimmen ausgezählt werden, sondern das zerklüftete Parteiensystem in Verbindung mit einem Mehrheitswahlrecht nach englischem Muster.

Stärkste Kraft im Land ist nach wie vor die Liberale Partei. Die Partei von Ministerpräsident Chrétien verfügte seit 1997 mit nur 38 Prozent dank des Mehrheitswahlrechts über eine knappe Mehrheit von 155 der 301 Parlamentssitzen. Mit einem Ergebnis von 42 Prozent bei der jetzigen Wahl ist ihr eine Mehrheit der Mandate sicher.

Die größte Oppositionspartei ist mit rund 24 Prozent die rechte Kanadische Allianz. Sie ist aus der Reformpartei hervorgegangen und ist insbesondere im Westen des Landes verankert. Dort liegt die Allianz ganz deutlich vorn und deplazierte die Liberalen mit 33 zu 10 Sitzen.

In Québec dominiert der Bloc Québécois. Die Partei der frankophonen Einwohner des Staates zieht mit rund 30 Sitzen wieder ins Parlament ein. Daneben gibt es noch zwei weitere Oppositionsparteien. Zum einen die einstmals so mächtige Konservative Partei, die ihren Abwärtstrend bei dieser Parlamentswahl stoppen konnte. Außerdem bekommen die Liberalen Konkurrenz von links von Form der Neuen Demokratischen Partei. Zusammen haben beider Gruppierungen zwar fast ein Viertel der Stimmen, wegen des Wahlrechts erhalten sie aber keine dreißig Sitze.

Der Wahlsieg der Liberalen kam angesichts der guten Situation, in der sich das Land befindet, nicht so überraschend. Wie in den Vereinigten Staaten werden die staatlichen Überschüsse zur Schuldentilgung und für eine umfangreiche Steuersenkung eingesetzt. Die oppositionellen Parteien sind getrennt in den Wahlkampf gezogen. Erst als der 66jährige Chrétien in Fernsehdiskussionen eine schwache Figur machte und Umfragen die Kanadische Allianz bei fast 30 Prozent sahen, schien sich eine Niederlage der Regierung abzuzeichnen. Doch als stärkste Partei hätten die Liberalen auch weiterhin in einer Koalition den Premier gestellt.

Jetzt wird Chrétien mit bis zu 170 Parlamentssitzen ungehindert weiterregieren können. Er kann dies trotz der kleineren Skandale, die insbesondere die Kanadische Allianz angeprangert hatte. Die Strategie der rechten Partei besteht darin, das Protestpotential nach dem Niedergang der Konservativen zu mobilisieren. Die ehemalige Reformpartei attackiert ähnlich wie Jörg Haider die Korruption und die überalterte, unflexible politische Klasse des Landes.

Angeführt wird sie von dem 50jährigen Stockwell Day, der erst im vergangenen Sommer an die Spitze seiner Partei gewählt worden ist. Der ehemalige Hilfspastor war zuletzt Finanzminister in Alberta und zog dank einer Nachwahl in British Columbia als Nachzügler ins Parlament ein.

Zur erfolgreichen Strategie seiner Gegner gehört die Stigmatisierung der Allianz als fundamentalistische Rechtsaußenpartei. Chrétien selbst hat vor plumper Hetze gegen seine eigenen Landsleute nicht haltgemacht. Weil die Allianz an die "dunkle Seite" der Menschen appelliere, seien ihre Wähler "Rassisten" und "Holocaustleugner", so der Ministerpräsident. Stockwell Day selbst ist fundamentalistischer Christ und vertritt ein biblisches Weltbild. Andererseits hat er eine bewegte Biographie, die ihn positiv formuliert als vielseitige Persönlichkeit kennzeichnet: Er arbeitete als Bestatter, als Auktionator, als Sozialarbeiter und Fleischpacker. Zeitweise schlug er sich sogar als Straßenarbeiter durch.

In Alberta hat Day die Annerkennung religiöser Schulen durch den Staat durchgesetzt. So ist er in die Politik gekommen. Vor 15 Jahren wurde er in das Landesparlament gewählt. Drei Jahre lang diente er als Minister. Während seiner Amtszeit wurde eine neue pauschale Einkommensteuer eingeführt, die selbst linke Zeitungen als "revolutionär" bezeichnen.

Er selbst setzt sich zusätzlich für ein Abtreibungsverbot ein und unterband gleichzeitig weitere Vorteile für Homosexuellengruppen. Unlängst wurde Stockwell Day von einem Anwalt eines Pädophilen verklagt, den er wegen seiner Arbeit beleidigt hatte.

Mit ihrem Wahlspruch "Zeit zum Wechsel" wollte Allianz ihre Führungsrolle untermauern. Niemand hat an einen Wahlsieg der jungen Partei geglaubt, aber sie ist hervorragend positioniert, den Liberalen nach dem Niedergang der Konservativen zukünftig als stärkste Partei den Rang abzulaufen.

Von der Rhetorik und Programmatik her erinnert die Kanadische Allianz stark an die Republikaner und Neokonservativen in den USA der frühen achtziger Jahren. Auch die lokale Verankerung im Westen des Landes spricht dafür. Der Leitsatz Stockwell Days ähnelt den plakativen Aussagen Ronald Reagans: "Die Liberalen glauben, die Bürger seien für den Staat da. In Wahrheit ist der Staat für die Bürger da."


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen